"Ja, der Kindermann"

TRIER. Neun Jahre Heinz Lukas-Kindermann, das waren 3258 Tage künstlerisches Abenteuer für das Theater Trier. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, viele Erfolge, einige Debakel, rasante Neuerungen, gediegenes Handwerk - alles, nur eines nicht: langweilig.

Würdigungen für einen in Ruhestand Gehenden erliegen häufig der Gefahr, in die Nähe eines Nachrufs zu geraten. Der zu Feiernde steht am Ende einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn, ist längst altersmilde geworden, erhebt sich weise über die schnöden Konflikte des Alltags und blickt einem geruhsamen Rentnerdasein entgegen. Freund und Feind sind in Maßen gerührt, Trennendes verschwindet im milden Licht der Retrospektive, Verdienste wachsen ins Legendäre. Bei Heinz Lukas-Kindermann liegt diese Gefahr Welten entfernt. Er hat buchstäblich bis zum letzten Tag seiner Amtszeit dafür gesorgt, dass Friede, Freude und Eierkuchen von der Speisekarte der Trierer Theaterkantine gestrichen blieben. Altersmilde hat bei ihm ohnehin noch niemand diagnostiziert, und dem Rentnerdasein wird er künftig von einer Inszenierung zur anderen entfliehen - statt sieben, wie in seinem letzten Trierer Amtsjahr, würde er es vielleicht, von Intendantenpflichten befreit, auf ein Dutzend pro Saison bringen, gäbe es da keine heilsame häusliche Instanz, die ihm Grenzen auferlegt.Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde

"Ja, der Kindermann". Das war fast ein Jahrzehnt lang ein geflügeltes Wort, nicht nur in der Redaktion. Ein solches "Namens-Markenzeichen" wie "den Kindermann" gibt es in Trier nur noch genau ein einziges Mal. Das ist "der Schröer". Vielleicht der Grund, warum die beiden Herren selten in den gleichen Raum passten, ohne dass eine Tür flog. "Der Kindermann": Das war wie Dr. Jekyll & Mr. Hyde. Mal Wiener Charme von der Dicke der Schlagobers-Schicht auf einer Obsttorte im Sacher, mal schnarrender Groll, so kratzbürstig wie die Stimme von Ludwig Hirsch nach dem zehnten Whisky. Nur dass man vorher nie wusste, in welche Richtung das Pendel jeweils ausschlagen würde. Das Phänomen Kindermann lässt sich am leichtesten anhand einer Geschichte beschreiben. (Es gibt davon so viele, dass man locker ein Buch schreiben könnte). Sie spielt im Jahr 2000, am Rand der Weltausstellung in Hannover. Das Trierer Theater - also sein Intendant - hatte ein Gastspiel im Deutschen Haus bei der Expo ergattert. Eine Uraufführung stand an, Ingomar Grünauers Oper "Trilogie der Sommerfrische".Adrenalin als Droge für die Kreativität

Eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen konnte, auch wenn keiner wusste, wie es eigentlich funktionieren sollte. Das Trierer Haus hatte eine mächtig anstrengende Saison hinter sich, die Antikenfestspiele hatten drei Tage zuvor Premiere gefeiert und kämpften mit massiven Wetterproblemen. Man musste schon reichlich verrückt sein, um mit Mann und Maus zwischen zwei Amphitheater-Vorstellungen nach Hannover zu heizen und vor erlesenem Publikum eine Weltpremiere (!) auf die Beine zu stellen. Vor Ort in Hannover musste ein kompliziertes Bühnenbild aufgebaut werden, die komplette Beleuchtung war einzurichten, die musikalischen Schlussproben standen an. Was halt so in der letzten Woche vor einer Premiere zu erledigen ist. Nur mit einem Unterschied: Es waren genau eineinhalb Tage bis zum ersten Vorhang. Eine Situation, die "normale" Menschen zur sofortigen Kapitulation veranlassen würde. Aber diese Art von adrenalin-treibendem Wahnsinn ist offensichtlich genau die Droge, die Heinz Lukas-Kindermann braucht, um seine ganze Kreativität zu entfalten. Da stand am Vorabend um 20 Uhr ein Mann am Regiepult, der wie ein Stehaufmännchen hin und her sprang, mal Sänger, mal Scheinwerfer durch die Gegend wuchtete. Es war die blanke Konfusion, nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass hier 24 Stunden später eine Premiere stattfinden könnte. Als der Reporter, weit nach Mitternacht, den Heimweg antrat, bastelte der Intendant gerade an irgendwelchen Requisiten. Als er morgens um Neun das "Deutsche Haus" wieder betrat, richtete selbiger gerade den Stellwinkel von Scheinwerfern ein. Die Regie-Assistentin brach auf die freundliche Frage, wie der Chef denn so früh wieder vom Hotel aufs Expo-Gelände gelangt sei, in anhaltendes Gelächter aus. Meister Kindermann hatte die Nacht auf seiner Bühne zugebracht, ein paar Minuten im Anzug gedöst - und so sah er auch aus. Die Premiere, die elf Stunden später über die Bühne ging, war eine der gelungensten, künstlerisch anspruchsvollsten, hochkarätigsten Produktionen, die das Trierer Theater in den letzten Jahren auf die Beine gestellt hat. Phänomen Kindermann eben. Das Trierer Publikum bekam diese grandiose Produktion übrigens nie zu sehen. Zeit und Geld reichten nicht für die angekündigte Aufführung in Trier, die "Sommerfrische" überwinterte im Fundus.Ein Bulldozer im Alleingang

Auch das hat was mit der Persönlichkeit und der Arbeitsweise von Heinz Lukas-Kindermann zu tun. Nachhaltigkeit ist seine Sache nicht. Der Mann gehört zu den genialen Wegbereitern, die wie ein Bulldozer im Alleingang Schneisen in den tiefsten Urwald schlagen können. Aber er braucht auch ein halbes Dutzend Helfer, die hinter ihm herlaufen, um das anfallende Kleinholz aufzusammeln. Ein kleines Haus wie Trier konnte diese Infrastruktur nicht immer bieten - dementsprechend bleibt zum Ende der Ära Kindermann einiges am Wegesrand liegen. Aber die Wette gilt: An das Kleinholz wird sich in ein paar Jahren niemand mehr erinnern. Doch die Schneisen im Trierer Kulturdschungel werden sich als dauerhaft erweisen. .

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