Jenseits ausgetretener Pfade

BERNKASTEL-KUES. Zu zwei stimmungsvollen Abenden mit "Neapolitanischen Liebesliedern" luden die Moselfestwochen ins Kloster Machern ein. Tenor Thomas Kießling und Pianist Chri-stoph Jung boten dabei ein überraschendes Programm.

 Eine Entdeckungsreise, mit souveränen stimmlichen Mitteln unternommen: Thomas Kießling beim neapolitanischen Liederabend im Kloster Machern, begleitet von Christoph Jung.Foto: Willi Speicher

Eine Entdeckungsreise, mit souveränen stimmlichen Mitteln unternommen: Thomas Kießling beim neapolitanischen Liederabend im Kloster Machern, begleitet von Christoph Jung.Foto: Willi Speicher

Neapolitanische Liebeslieder: Das klingt nach Sonnenuntergang über dem Vesuv, da wabert der Dunst südlicher Fischerkneipen über die Bühne, und das Ohr stellt sich darauf ein, dass die Stimme des Sängers und der Klang der Geigen bei Gassenhauern wie Funiculi-Funicula, Tiritomba oder Marechiare hemmungslos um die Wette schluchzen. Und dann das: Händel, Pergolesi, Scarlatti. Die ganze Garde der vormozartlichen Opernkomponisten bestimmt die komplette erste Hälfte des Programms, das Thomas Kießling zusammengestellt hat.Durchdachtes Konzept steckt hinter der Auswahl

Nix O Sole mio - Kantate ist angesagt. Aber bei näherem Hinsehen wird deutlich, welch kluges und musikalisch durchdachtes Konzept hinter der Auswahl steckt. Die neapolitanische Liedkultur hat sie alle beeinflusst, die Großen der frühen Opernkunst. Selbst Händel, die Londoner Legende, hat kompositorische Wurzeln in Napoli, wo er als junger Mann eine Zeit lang residierte. Kießling dokumentiert sie eindrucksvoll mit der Arie "Lascia ch'io piange" aus der Oper Rinaldo. Er spannt einen weiten Bogen von den noch aus dem 16. Jahrhundert stammenden "Amarilli" von Giulio Caccini bis zu Giordanis fünf Generationen später entstandenem "Caro mio ben", dessen musikalische Phrasen sich bis zum "We shall overcome" unserer Tage weiter verfolgen lassen. Eine längst fällige Wieder-Entdeckung: Die Arien des genialen Alessandro Scarlatti, dessen vielfältige Arbeiten im Gegensatz zu denen seines Sohnes Domenico hierzulande weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Thomas Kießling widmet sich dieser Entdeckungsreise mit souveränen stimmlichen Mitteln. Vor allem seine "messa di voce", das Spiel mit an- und abschwellenden Tönen, die feinen, vielfältigen dynamischen Schattierungen und die präzise Diktion lassen das "Mitreisen" zum echten Vergnügen werden. Ein einziges Mal gerät der Napoli-Express aus dem Gleis, allerdings gleich auf der ersten Station. Pergolesis dreiteilige Kantate ist ein mörderisch verschnörkeltes Stück für eine federleichte, schwebende Stimme, für eine Art männliche Cecilia Bartoli. Man sollte sie nur ins Programm nehmen, wenn man sie singen kann, ohne vor Anstrengung einen roten Kopf zu bekommen. Solche Geläufigkeits-Kunststücke liegen Thomas Kießling hörbar weniger als der komplette zweite Teil des Abends, der sich erwartungsgemäß der klassischen neapolitanischen Canzoni widmet. Aber auch hier meidet der Sänger dankenswerterweise die abgenudelten Evergreens und die schmalzigen Effekte vieler "großer" italienischer Tenöre. Und gerade diese Zurückhaltung lässt die ganze Melancholie der Lieder aufscheinen. Wenn neapolitanische Lieder die Liebe besingen, dann stets mit einem Tropfen vergeblicher Sehnsucht, mit der Möglichkeit des Scheiterns versetzt. Die Träne im Knopfloch ist in der Melodie mitkomponiert, der Sänger braucht sie nicht noch extra vorzujammern. So erzählt Kießling beredt vom "Mal d'amore", von Eifersucht und Todessehnsucht, von Glück und Verlassensein. Christoph Jung am Flügel ist ihm dabei gleichermaßen Dialog-Partner wie versierter Begleiter, einfühlsam, technisch sauber, auch er stilistisch ohne jegliche Larmoyanz - und aufmerksam die Lücken schließend, wenn sich der Sänger die eine oder andere Freiheit gestattet. Gemeinsam rufen sie wunderschöne Titel ins Gedächtnis zurück, wie das meist Bellini zugeschriebene "Feneste che lucive" oder Crescencos "Rondine al Nido". Erst zum regulären Finale, mit "Torna a Surriento" und Tostis "Ultima Canzone", greift das Duo in die Kiste mit altbekannten Schlachtrössern. Ein einziges Mal verlässt Kießling den Pfad der Tugend und schmettert als Zugabe dann doch noch ein maniriertes "O sole Mio" in den Saal, als müsse er beweisen, dass er den hohen Triller mindestens so spektakulär singen kann wie Pavarotti & Co. Er kann's, und die Reaktion des Publikums ist entsprechend euphorisch, da unterscheidet sich das Kloster Machern nicht vom Musikantenstadl. Der publikums-erprobte frühere Jung-Tenor quittiert es mit einem milden Lächeln und verabschiedet sich mit einem zauberhaft-traurigen "Core n'grato". Beim Rausgehen dämmert der Abend über der Mosel. Zugegebenermaßen nicht der Vesuv. Aber auch sehr schön.

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