KOLUMNE

leben Sie eigentlich noch? Ich meine, in echt, nicht nur als vorbei huschender Schatten, wenn die Kamera über Koalitions-Verhandlungstische schwenkt und einen Sekundenbruchteil lang ihre markante Physiognomie abbildet?

Es ist gerade mal 20 Tage her, da sollten Sie noch unbedingt Kanzler werden, weil es ohne Sie doch überhaupt nicht gehen könne in diesem unseren Deutschland, wie uns Herr Müntefering täglich zu versichern geruhte. Nun sind Sie beide weg vom Fenster, und wenn alle folgen, die nach der Wahl genau so neben der Kappe gelegen haben, dann werden noch jede Menge Planstellen bei der SPD frei. Aber ganz unter Freunden: Das muss doch ein saublödes Gefühl sein, wenn man wie der Altenteiler auf dem Bauernhof nutzlos und etwas verloren dabei sitzt, wenn die Hof-Erben die Details des Flurbereinigungsverfahrens besprechen. Oder wie ein abgelöster Fußball-Trainer, der noch auf der Bank hocken muss, während längst andere die Mannschafts-Aufstellung und die Spiel-Taktik bestimmen. Wenn man Sie so sieht als einen, den plötzlich kein Mensch mehr was fragt, könnte man fast ein bisschen Mitleid bekommen. Aber nur fast. Schließlich haben Sie sich den Schlamassel selbst eingebrockt, mit dem ganzen Affentanz nach der Wahl. Schauen Sie sich mal ihren alten Kumpel Joschka an: Der hatte nicht nur einen Super-Abgang in den gepflegten Status des "elder statesman", sondern erledigte gleich in einem Aufwasch seine fünfte Hochzeit. Nun stand das bei Ihnen gerade mal nicht an, aber ein bisschen Privatleben nach der ganzen Kanzlerei hätte Ihnen sicher besser getan als die Rolle des "elder Grüßaugust" bei Verhandlungen, die Ihnen wahrscheinlich sonstwo vorbei gehen. Dumm gelaufen, kann man da nur sagen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Die Zukunft birgt Chancen, wie man bei manchen Ihrer Kollegen sieht. Ob gleich eine Herausgeberschaft bei der "Zeit" herausschaut, wie beim Intellektuellen Helmut Schmidt, ist natürlich schwer zu sagen. Aber für eine mehrbändige Biographie wie bei Helmut Kohl wird's allemal reichen. Und als Dinner-Redner bei weltweiten Edel-Veranstaltungen lässt sich weitaus mehr Geld verdienen als mit einer schnöden Kanzlerschaft. Dieter Lintz

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