Kaffeehaus statt Coffeeshop

SAARBURG. Legenden leben davon, dass sich die Erinnerung an sie langsam, aber sicher verklärt. Tauchen sie wieder auf, kann es sein, dass der Zauber früherer Tage verfliegt. Auch das Revival von "Ekseption" im Rahmen der Moselfestwochen hinterließ gemischte Gefühle.

Stimmt, so war das damals in den Siebzigern, als Rock-Konzerte noch Happenings waren und keine durchgeplanten Events: Es begann mindestens eine halbe Stunde nach der angesagten Uhrzeit, man musste vor der Halle verharren, bis die Roadies gnädigerweise Einlass gewährten, und der letzte Teil des Soundchecks fand dennoch grundsätzlich in Anwesenheit des Publikums statt. Vielleicht will "Ekseption" der mageren, gut hundertköpfigen Besucherschar mit der Verspätungs-Zeremonie ein Déja-vu-Erlebnis bescheren. Wer gekommen ist, hat es ohnehin nicht eilig. Der Altersdurchschnitt im Saal beschert einem Mittvierziger die reelle Chance, alte Klassenkameraden wiederzutreffen - oder gar einen inzwischen ergrauten Junglehrer von einst, der als fertig studierter 68er just zu dem Zeitpunkt in den Schuldienst eintrat, als Rick van der Linden seine "Ekseption" zum ersten Mal auflöste. Gott sei Dank - im Saal stehen Stühle

Mit Erleichterung nehmen die Zuschauer zur Kenntnis, dass der Saal bestuhlt ist, in den vorderen Reihen sogar mit Bistro-Tischen und -stühlchen: Kaffeehaus statt Coffeeshop, die Zeiten ändern sich. Auch den Künstler selbst hätte auf Anhieb niemand mehr erkannt, bartlos und mit Kurzhaar, am Piano sitzend wie der schmalere Bruder von Elton John. Spätestens bei den ersten Tönen ist allerdings klar, was da gespielt wird: Improvisationen über Bachs Toccata, von Rick van der Linden unnachahmlich aufbereitet, mal auf der voluminösen Kirchen-, mal auf der Hammondorgel, mal auf dem Flügel samt eingebautem Keyboard. Die Begleitband, drei junge Kanadier, tut sich schwer. Arg einfältig kommt die Begleitung von Bass und Schlagzeug, egal ob Largo, Air, Siciliana: "Wumm-bumm" tönt der Hintergrund, hoffnungslos übersteuert von einem Mixer, der in den niederen Frequenzbereichen offenbar hochgradig ertaubt ist. Belanglos plätschern die den Enkelkindern gewidmeten Bearbeitungen klassischer "Tanzhits" dahin, flach ein selbst komponiertes Lied für die Ehefrau. Fast wäre man geneigt, die Hoffnung aufzugeben, da krachen zwei, drei exzellente Jazz-Nummern von der Bühne, Improvisationen über verschiedene Präludien von Bach. Kaum löst man sich vom poppigen Nacherzählen der Klassik-Charts, gewinnt das Konzert an Fahrt. Die Band spielt sich frei, zeigt Profil, für Momente wird auf der Bühne ein schöpferischer Prozess spürbar. Dann wirft van der Linden noch ein paar seiner von trockenem Humor geprägten, sympathisch-selbstironischen Zwischenmoderationen in den Saal, und schon glaubt man, der Abend sei gerettet. Bis sich plötzlich die hintere Saaltür öffnet und ein schauriger Gesang erklingt, der sich anhört, als veranstalte man einen Karaoke-Wettbewerb unter dem Motto "Micky Maus singt Messe". Die grausam verunstaltete Arie entpuppt sich als Bachs "Bist du bei mir", die Sängerin als van der Lindens Ehefrau Inez. "Ist es nicht wunderbar", säuselt Rick. Dass Liebe blind macht, ist allseits bekannt, aber die Auswirkungen auf das Gehör müsste man dringend erforschen. Zunächst ist man geneigt, den Vorfall zu entschuldigen: Vielleicht ist ja der Kurz-Auftritt der Gattin der Preis dafür, dass der Meister im hohen Alter noch mal auf Tour gehen durfte. Aber die Neigung zur Milde verfliegt, wenn sich die Dame im späteren Verlauf des Abends auch noch der vorsätzlichen Schändung von Bachs "Ave Maria" durch fortgesetztes Piepsen auf offener Bühne schuldig macht. Da reicht nicht einmal die sofort nachgeschobene Turbo-Version von Beethovens Fünfter aus, um den Schaden zu regulieren. Doch am Schluss des regulären Teils dreht van der Linden noch einmal alles zu seinen Gunsten: mit einem fulminanten Mix mittelalterlicher, folkloristischer und klassischer Klänge, zerrissen und wieder neu zusammengesetzt, mit Klangteppichen, die sich bis unters Hallendach türmen und deutlich machen, warum der Holländer einst in einem Atemzug mit Keith Emerson und Rick Wakeman genannt wurde. Diesen fantastischen Klang im Ohr, verlässt der Rezensent eilenden Schritts die Halle - bevor bei den Zugaben möglicherweise noch mal Micky Maus singt.

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