Klatschen, Jubeln, Stehen

TRIER. Kein Begriff findet bei Theaterkritike(r)n in jüngster Zeit so inflationäre Verwendung wie jener der "standing ovation". Dabei ist nicht immer klar, wer damit eigentlich gefeiert wird.

"Applaus, Applaus, Applaus!" brüllte einst Kermit, der legendäre Frosch aus der Sesamstraße, nach jedem Gag. Und seine Fans - bis auf die Knattergreise Waldorf und Statler - kamen der Aufforderung stets bereitwillig nach. Die Akteure, die allabendlich vor Publikum stehen, haben zwar kein Beifall einforderndes Tier zur Hand. Aber der Applaus, von unverbesserlichen Theaterromantikern gern als "das wahre Brot des Künstlers" beschrieben, hat, wie treue Abonnenten und Abendkassenkartenkäufer sowie altgediente Mimen immer häufiger feststellen, auch so Dimensionen angenommen, die bisweilen am ge- sunden Menschenverstand des Publikums zweifeln lassen. Spontanes Aufspringen und frenetisches Jubelgebrüll waren einst für ausgesprochen zwielichtige Charaktere wie Adolf Hitler und seine Schmierenchargen reserviert - Stichwort: die "Sportpalastrede" seines physisch degenerierten Satrapen Goebbels vom 18. Februar 1943. Derlei Begeisterungsentäußerungen gelten zwar nach wie vor für Politiker aller Couleur (obwohl die Intensität des Enthusiasmus' nur in den seltensten Fällen der Qualität der Show gerecht wird), beziehen inzwischen aber auch die Leistung echter Komiker ein. Übrigens: Sportveranstaltungen zählen nicht; bei denen stehen die Leute sowieso meistens rum, wenn sie nicht die ganze Zeit von den Stühlen hochspringen und sich wieder fallenlassen. Natürlich hat diese enthemmte Begeisterung auch einen Namen, und der ist ausnahmsweise im Deutschen genauso unsinnig wie im Englischen. Der Begriff "standing ovations" oder, immer öfter zu lesen, "stehende Ovationen", ist eine Sprachschlamperei, die nicht einmal im Duden steht. Zu Recht, denn seit wann können Ovationen stehen? Korrekterweise müsste es heißen "von stehenden Menschen dargebrachte Ovationen". Aber diese Formulierung ist so verschraubt, dass sie allenfalls in notarielle und sprachlich ähnlich absurde Schriftstücke Eingang findet. Zurück zum Phänomen, dessen Bezeichnung wir im Folgenden der Einfachheit halber kritiklos übernehmen. Nicht nur der Begriff, auch die Erscheinung an sich ist geradezu inflationär geworden, so dass heutzutage bereits drittklassige Laienaufführungen stehend bejubelt werden. Das gibt zu denken - den Theaterschaffenden ebenso wie Psycho- und Soziologen, die sich bereits wissenschaftlich damit beschäftigt haben ( www.angasm.org/society/ovation.html).Die Begeisterung steigt mit dem Eintrittspreis

Verschiedene Theorien werden zitiert. Die pragmatischste Variante besagt: Wenn der Abend schon Mist war, dann soll wenigstens der Beifall erstklassig sein. Und die Schauspieler, so sie nicht vor lauter Eitelkeit jedes Augenmaß verloren haben, sind ganz schön irritiert (oder müssen sich verhohnepiepelt vorkommen, was ja auch ziemlich gemein ist vom Publikum). Der Dramatiker Arthur Miller, der auf mehr als ein halbes Jahrhundert miterlebte und -geprägte Theatergeschichte zurückschauen kann, glaubt, eine Parallele zwischen den steigenden Kartenpreisen und dem exaltierten Jubel ausgemacht zu haben: "Wenn die Leute 75 Dollar (wahlweise Euro) für einen Platz bezahlt haben, muss diese Summe auch irgendwie durch den Schlussbeifall gerechtfertigt werden." Das heißt, der Zuschauer beklatscht sich letztlich selber, weil er soviel Geld für die Kultur hat springen lassen. An dem Gedanken scheint was dran zu sein. Er wird nicht zuletzt bestärkt durch die Tatsache, dass viele professionelle Theaterbesucher, so genannte Kritiker, die ja grundsätzlich nicht zahlen, am Ende des Abends demonstrativ nicht klatschen, sondern gelangweilt bis hochnäsig auf die enthemmte Meute um sich herum blicken wie der Lufthansapassagier, der versehentlich in einen Charterflieger geraten ist, wo im Falle einer glücklichen Landung das Ferienvolk auch immer begeistert - beziehungsweise je nach Reiseunternehmen erleichtert - applaudiert. Es gibt noch weitere Gründe für stehende Ovationen, als da wären 1. am Ende des Abends will der Besucher nur schnell nach Hause, erhebt sich, kommt aber nicht an den Sitznachbarn vorbei und klatscht weiter, weil er sonst nichts zu tun hat; 2. sein Fuß ist auch eingeschlafen, und er muss sich sofort vertreten oder 3. jemand in der ersten Reihe ist aufgestanden, und die hinter ihm tun‘s ihm nach, damit sie nicht auf den Rücken des Vordermanns sehen müssen - oder weil sie klaustrophobische Anwandlungen befürchten.Von Claqueuren und Bezahlaufstehern

Natürlich sind viele standing ovations auch hausgemacht. Wie manch ein Regisseur oder Intendant zwecks Hebung des Erfolgs Claqueure einbestellt, die zur Freikarte noch eine geringe Aufwandsentschädigung erhalten, holen sich einige Theatermacher angestellte Aufsteher ins Haus. Zumindest am New Yorker Broadway sind derlei Praktiken dabei, unschöne Sitte zu werden, vor allem bei Stücken, über deren Qualität erhebliche Zweifel bestehen. Manch ein Zuschauer lässt sich dann vom Hochschnellen der Bezahlaufsteher doch noch davon überzeugen, einem grandiosen Abend beigewohnt zu haben, auch wenn er sich tödlich gelangweilt hat (siehe dazu auch Siegmund Freud, "Massenpsychologie und Ich-Analyse", Wien 1921). Das eigentliche Problem mit den stehenden Ovationen freilich erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Es gibt für wirklich herausragende Darbietungen keine Steigerung mehr, wenn man einmal davon absieht, dass das Publikum noch auf die Stühle klettern könnte, was bei Klappsitzen allerdings einiges an artistischem Können voraussetzt. Überbieten kann man den Steh-Jubel eher mit einer Weiterentwicklung der "Bravo"-Rufe: Sie könnten etwa durch enthusiasmierte Urschreie ersetzt werden. Zum Schluss der bei Theaterartikeln obligate Schlenker zu William Shakespeare. Der hatte kei- ne Probleme mit standing ovations. In seinem Globe Theatre standen die Leute sowieso - zumindest die "groundlings" auf den billigen Plätze vor der Bühne. "Vielleicht", räsonniert Arthur Miller, "haben die sich ja hingesetzt, wenn ihnen etwas besonders gut gefallen hat."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Vom erwischt werden
Vinyl der Woche: Love Is A Wonderful Thing – Michael Bolton Vom erwischt werden
Aus dem Ressort