Lass uns vom Leben träumen

Luxemburg · Mitleid ist fehl am Platz: Im Inklusions-Theaterstück "Schwestern" strahlen die drei behinderten Hauptdarstellerinnen eine ansteckende Lebensfreude aus. Rund 250 Besucher im Studio des Luxemburger Grand Théâtre waren tief beeindruckt.

 Strahlen eine ansteckende Lebensenergie aus: Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredßus. Foto: Grand Théâtre

Strahlen eine ansteckende Lebensenergie aus: Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredßus. Foto: Grand Théâtre

Luxemburg. Am Ende laufen sie ausgelassen kreuz und quer über die Bühne. Sie schwenken die Arme, drehen sich im Kreis oder um die eigene Achse und strahlen ein Gefühl von Freiheit aus. Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredßus, alle drei leiden am Down-Syndrom. Und doch: Sie sind die zentralen Figuren im Musik- und Tanztheaterstück "Schwestern", das im Studio des Luxemburger Grand Théâtre gezeigt wurde. Es ist echte Inklusion, ein Miteinander auf Augenhöhe.
Anton Tschechovs spätes Drama "Drei Schwestern" ist nur die Folie für dieses Stück. Wo Tschechov abschließt, setzt seine Handlung ein - ein Epilog und zugleich ein Neuanfang. Das Stück wird zur Geschichte von drei behinderten Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen und ihre eigene Zukunft entwerfen.
"Das Stück ist kein Sozialprojekt", sagt Regisseur und Co-Autor Frank Krug. Krug und Choreograph Davide Camplani haben sich keine behindertenpädagogische Veranstaltung ausgedacht, sondern ein ganz normales Schauspiel auf die Bühne gestellt. Und sie haben dieses Schauspiel ganz auf die drei Akteurinnen zugeschnitten. Die spielen sich großenteils selber, und auch die umfangreichen Texte, die sie sprechen und die ein gutes Gedächtnis verlangen, stammen großenteils von ihnen. Ketan Bhattis weltmusikalisch inspirierte Bühnenmusik liefert dazu eine erstaunliche Vielfalt von gedämpften Klangfarben.
Das karge Bühnenbild (Irina Schicketanz) beschränkt sich auf einen Wohncontainer. Darin reden sie miteinander - über ihr Leben, ihre körperliche und seelische Befindlichkeit, ihre Wünsche und Perspektiven und ihre Sehnsucht. Ganz gleich ob zufrieden, ob glücklich oder trauernd, sie strahlen eine ansteckende Lebensenergie aus, eine Daseinsfreude, die sich von der missgestimmten Normalität in Mitteleuropa leuchtend abhebt.
Trotz der völlig undramatischen Konzeption entwickelt sich über eineinhalb Stunden Aufführungsdauer ein bruchloser Spannungsbogen. Angesichts dieser darstellerischen Präsenz werden die übrigen Akteure, Tammo Winkler und sogar die bedeutende Angela Winkler, eindeutig zu Nebenfiguren.
Mag sein, dass der erst leere und dann mit einem schreienden Balg belegte Kinderwagen ein etwas plattes Symbol war. Doch das ethische Warnsignal dahinter ist deutlich genug. In Zeiten von Pränataldiagnostik und risikoloser Abtreibung ist das Lebensrecht Behinderter schon lange keine konservative Floskel mehr, sondern ein humaner Appell. Wie unendlich traurig, wenn Nele Winkler, Juliana Götze und Rita Seredßus zu den Ungeborenen gezählt hätten!

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