Literarische Botschaften vom zerbrechlichen Ich

PRÜM. "75 deutsche Jahre ist er alt", sagte Josef Zierden zur Einleitung. Günter Kunert gilt als sarkastischer Zeitzeuge, als skurril-tiefsinniger Lyriker, als Meister der Kurzprosa. In Prüm präsentierte er sich ein wenig naiv, ein wenig hinfällig und vor allem sehr sympathisch.

Nein, Fragen aus dem Publikum möchte er nicht beantworten. Dabei käme doch nichts heraus. Statt dessen erzählt Günter Kunert zum Abschluss seiner Lesung über sein Schriftstellerdasein, seinen Antrieb, sich selber, seine Persönlichkeit umzusetzen in Literatur. "Ich bin, was ich schreibe", sagt er. Und: "Es mag Sie enttäuschen, aber für Leser schreibe ich nicht, sondern nur für mich selber." Er ist sichtlich nicht mehr der Jüngste. Und doch blinken die Augen im kahlen Kopf - listig und lustig, mit ein bisschen echter und ein bisschen gespielter Naivität. Einer, der die unfreiwillige Komik der Welt und seiner eigenen Person entdeckt hatte und darüber immer noch ein wenig erstaunt ist. Oder jedenfalls so tut. Er liest. Aus seinen neuen, unveröffentlichten Prosaskizzen. Es sind humorvoll-weise, manchmal trauernde Reflexionen eines alten Mannes, zaghafte erotische Anmutungen, Gesprächsversuche mit dem weit entfernten Gott und paradox-hoffnungsvolle Visionen vom "Irrlicht am Ende des Tunnels". Aus seiner Autobiografie "Erwachsenenspiele" nimmt er sich die ersten Seiten vor. Abenteuer in einer elterlichen Wohnung, die sich in der Nacht unversehens zum Albtraumland wandelt, erste erotischen Erfahrungen mit Literatur und Nacktfotos. Skurril und sympathisch, zum Lachen und Miterleben. Und auch zum Nachdenken über die eigene Kindheit. Dann Kurzprosa aus dem Band "Im toten Winkel". Spielerische Verfremdungen, die den Alltag humorvoll zur wirklichen Kenntlichkeit entstellen. Zum Beispiel der Mann auf der Straße, der glaubt, ins Visier der versteckten Fernsehkamera geraten zu sein, darauf reagiert und sich dann wundert, wenn er bei der Polizei landet. Dann Gedichte aus dem Lyrikband "Fremd daheim" - heiter-resignative Fragmente, Augenblicksbilder, manchmal so flüchtig wie der Blick zum Horizont, den ein Gedicht nachzeichnet. Dazwischen ein Text über die Amerikanisierung Europas. Wer ist der Autor? So fragt er und hält das Manuskript hoch. Und gibt gleich die Antwort: Mark Twain. Der Amerikaner mit dem scharfsinnigen, manchmal satirischen Blick auf die Alte Welt. Am Schluss des Abends tastet Kunert zitternd nach dem Taschentuch, versucht vergeblich, sein Brillenetui in der Weste unterzubringen. Und bei solchen Zeichen der Hinfälligkeit wird mit einem Mal so klar, was manche Prosa von ihm vielleicht vergessen machen will: Wie unendlich zart seine selbst eingestandene Egomanie ist, wie schutzbedürftig sein literarisches Fürsichsein. Die Besucher hörten und empfanden mit. Im Prümer Fürstensaal war die Sympathie fast körperlich spürbar. Nächster Gast des Eifel Literatur Festivals ist Ralph Giordano: 29. Oktober, 20 Uhr, Karolingerhalle in Prüm. Karten-Telefon: 06551/2489.

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