Mit Liebe gegen die Lügen

TRIER. "Let the sunshine in": Der TV präsentierte das Kult-Musical Hair in der gut besuchten Arena Trier. Die tschechisch-deutsch-amerikanische Koproduktion adaptierte das Geschehen in die Jetztzeit. Darsteller und Sänger brillierten.

Wo sind all die Hippies hin? In der ersten Szene des 68er-Musicals Hair ist jedenfalls keiner zu sehen: Eine Band, die mit weiten Jeans, engen T-Shirts und modernen Frisuren eher an Hip-Hopper als an Hippies erinnert, steht auf der Bühne, eine Rede Nelson Mandelas tönt aus einer Box. Für eine neue Weltordnung des Friedens und der Mitmenschlichkeit singt die Band das Zeitalter des Wassermanns herbei, für das Mond- und Planetenkonstellationen Frieden versprechen sollen. Mit den postmodernen Hip-Hop-Hippies, die sich - beinahe 40 Jahre nach dem Ende des Vietnam-Kriegs - gegen Unfrieden, soziale Ungerechtigkeit und Kapitalismus auflehnen, holt der schwedische Musical-Regisseur Georg Malvius dieses 70er-Jahre-Thema ins neue Jahrtausend. Statt mit Marihuana katapultieren sich Band und Bühnen-Publikum mit Koks in eine andere Welt. Statt mit Ausdruckstanz lehnt sich Hud mit Krump, dem aktuellen Tanz der Jugendlichen in den Schwarzen-Ghettos Amerikas, gegen Rassismus auf. Zu den Fans der Band gehören die wohlerzogene Sheila und der polnischstämmige Claude. Trotz unterschiedlicher Herkunft, Erziehung und Lebensentwürfe verlieben sich die beiden ineinander. Eine Zerreißprobe zwischen Familientraditionen, Pflichtgefühl, Liebe und dem Wunsch nach Freiheit. Während Sheila sich entscheidet, aus ihrem Spießbürgerleben auszureißen, besiegelt Claude seinen Beitritt zur Armee. Von Vietnam, dem Schreckensszenario der Original-Fassung, ist bei der Hair-Tournee 2006 keine Rede - die Frage, in welchen Krieg Claude zieht, stellt sich trotzdem nicht. Unweigerlich drängen sich Bilder aus dem Irak in den Sinn. Einen irgendwie versöhnenden Kontrast zur Adaption der Hippie-Geschichte in die Jetztzeit bilden die Arrangements: Die Live-Band - besetzt mit Saxofon, Trompete, Posaune, Schlagzeug, Percussions, E-Gitarre, E-Bass und Synthesizern - und die Melodieführungen und Stimmen erinnern bis auf Einzelheiten an die legendäre Broadway-Aufnahme von 1968. Die Stimmen, allen voran der volle Tenor des estländischen Popstars Koit Toomer, der die Schlüsselfigur Claude spielt, und die kraftvolle, moderne Röhre von Leroy Charlery alias Hud rühren an mit Brillanz und Ausdrucksstärke. Im zweiten Akt die Rückblende in die 60er: Martin Luther Kings "All men are created equal" schallt über die Bühne. Die Darsteller tragen keine rasierten Punk-Frisuren oder Rastas mehr, sondern glattes, langes Hippie-Haar, Stirnbänder, Stolas, Tücher, Schlaghosen. Wieder bilden die Arrangements einen Kontrast zur Inszenierung: Erinnert jetzt die Szenerie ans Original, sind dafür einige Lieder nur schwer wiederzuerkennen: Der Chor "Abie, Baby" wird zur Arie eines weißen Jungen an seine schwarze Freundin. Claude und Sheila aber sind die gleichen geblieben. Claude hat es nicht geschafft, sich von Familientraditionen und überkommen Wertvorstellungen zu lösen, seine Einberufung steht bevor. Mit der berühmten, leicht abgeänderten Nacktszene kommt die Verwandlung: Junge, fröhliche, wilde, unbedachte Männer ziehen ihre bunten Klamotten aus, stehen nackt, verletzlich und schutzlos auf der Bühne. Dann die militärische Einkleidung: Gleiche Wäsche, gleiches Hemd, gleiche Hose, gleicher Helm. Mit den Uniformen stirbt die Individualität. Ihr Gruppenbild wird abgelöst von einem Gräberfeld. "Let the sunshine in" singen ihre zurückgebliebenen Freunde und prangern die "new told lies" an, die ihrer Generation erzählt werden. Damals wie heute.

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