Mitreißend und facettenreich

Luxemburg · Prallen Theatergenuss bietet ein hochkarätiges Ensemble am Mittwoch und Donnerstag auf der ausverkauften Hinterbühne des Luxemburger Grand Théâtre mit Anton Tschechows "Kirschgarten" von 1904. Dabei gibt es durchaus aktuelle Bezüge zur auch heutzutage verbreiteten Geldgier und Zockermentalität.

 Minimalistisches Bühnenbild und herausragende Schauspielkunst: Vor rohen Ziegeln glänzen Ursina Lardi und Devid Striesow. Foto: David Baltzer

Minimalistisches Bühnenbild und herausragende Schauspielkunst: Vor rohen Ziegeln glänzen Ursina Lardi und Devid Striesow. Foto: David Baltzer

Luxemburg. Das feudalistische Russland befindet sich im Umbruch, als die kapriziöse Ljuba (Ursina Lardi) aus Paris auf ihr heimisches Landgut zurückkehrt, das wegen Geldverschwendung hochverschuldet ist und deshalb versteigert werden soll. Der reiche Emporkömmling Lopachin (Devid Striesow) macht der skurrilen Familie den Vorschlag, Sommerhäuser anstelle des prächtigen Kirschgartens zu bauen, um das Gut zu retten.
Dieser Garten ist der zentrale Sehnsuchtsort der Familie, der aber in der Luxemburger Inszenierung in den Hintergrund tritt, nicht einmal im Bühnenbild angedeutet wird. Er ist vielmehr die Projektion der Wünsche und Träume der Protagonisten. Die Regie von Thorsten Lensing und Jan Hein lässt den Schauspielern allen Raum zur Entfaltung, es macht den deutschen Bühnen- und Film-Superstars ganz offensichtlich viel Freude auf der kleinen Bühne, ganz nah bei den Zuschauern, zu spielen.
Das minimalistische Bühnenbild wird von einer rohen Mauer aus großen Ziegelsteinen dominiert, die im Laufe des Abends mehrmals krachend eingerissen und - von den Akteuren selbst - wieder aufgebaut wird. Ursina Lardi spielt überragend gut, jede noch so kleine Geste überzeugt, sie lotet alle Facetten der Figur aus - zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Striesow gibt den prolligen Lopachin deftig brachial aber tiefgründig, gibt ihm feine, berührende Zwischentöne. Die Figuren sind eingesperrt in sich selbst, zeigen keinerlei persönliche Entwicklung, die Handlung ergibt sich aus dem Zeit-Kontinuum, sie fließt dahin, hält inne, drängt wieder vorwärts, am Ende hat sich aber nichts und niemand verändert.
Dreieinhalb Stunden lang nimmt sich die ungekürzte Inszenierung auch Zeit für die langsamen Passagen. Ganz still wird es zum Schluss, als sich der vergessene, greise Diener Firs (anrührend: der fast 80-jährige Valentin Jeker) zum Sterben niederlegt. Peter Kurth als Ljubas Bruder Lonja zwischen Einfalt und Großspurigkeit und Joachim Król als unglückseliger Kontorist spielen alle Farben aus, die sie im (großartigen) Frankfurter "Tatort" nur andeuten können: Desorientierung, Ignoranz, Hysterie; immer nach dem Motto: Verzweiflung ist besser als Langeweile.
Des Weiteren glänzen Anna Grisebach, Anne Müller, Lars Rudolph, Rik van Uffelen, Nils Bormann und Lisa Hrdina. Wunderbar, wie Striesow - wegen eines Krankheitsfalls im Ensemble - auch die zaubernde Gouvernante gibt. Das alles ist meisterlich gespielt, voller Spontaneität und basiert auf exzellentem Handwerk.
Extra

Alle zwei bis drei Jahre bringt Lensings Theater T1 eine hochkarätig besetzte Truppe um die Schauspieler Ursina Lardi und Devid Striesow zusammen; zuvor hatte man - auch in Luxemburg - schon einen wahnwitzigen "Onkel Wanja" von Tschechow gezeigt, kürzlich brachte das Ensemble in Berlin Dostojewskis "Karamasow" zur Premiere. Das Stück wird wohl 2016 auch in Luxemburg laufen. DT

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