Mutig und auch ein bisschen frech

Mit einem Klavierabend gingen die 20. Mosel Festwochen an den Start. Solistin war die in Europa noch recht unbekannte Simone Dinnerstein, die im Kloster Machern die Herzen ihres Publikums im Sturm eroberte.

 Vertieft in die Musik: Simone Dinnerstein.TV-Foto: Gerhard W. Kluth

Vertieft in die Musik: Simone Dinnerstein.TV-Foto: Gerhard W. Kluth

Bernkastel-Wehlen. Mut - das war ein nicht zu übersehendes Charakteristikum der Eröffnung der 20. Spielzeit der Mosel Festwochen. Man hatte sich ja schon daran gewöhnt, wenn das Festival im Kloster Machern seine Tore öffnete, dass musikalische Selbstläufer das Geschehen bestimmten. Da gab es klassische Ensemblemusik, meist der gefälligen Art. In diesem Jahr gab es einen Klavierabend. Warum nicht? Auch der kann gefällig sein. Hermann Lewen ging aber einen Schritt weiter und verpflichtete mit Simone Dinnerstein eine Pianistin, die auf dem europäischen Konzertparkett ein noch fast unbekanntes Gesicht ist. Erst im Herbst 2005 gab die junge und äußerst sympathische Pianistin in den Vereinigten Staaten ihr Debüt, das die dortige Fachwelt aufhorchen ließ. Beschreibungen wie: "Ein neuer Stern geht auf" sollte immer eine Grundskepsis hervorrufen. Zu oft sind diese Sterne auch schnell wieder untergegangen.Mut bezeugte auch das Programm, mit dem Simone Dinnerstein sich vorstellte. Oder war es vielleicht schon ein bisschen frech, den Abend mit Aaron Copland und Philip Lasser gleich mit zwei zeitgenössischen amerikanischen Komponisten zu beginnen? Da gab es zunächst die Piano Variations von Copland, ein in Europa kaum gehörtes Werk aus dem Jahre 1930, das in den USA zum Standardrepertoire der Pianisten gehört. Durch und durch überzeugend

Basis sind hier lediglich vier Töne, die insgesamt 20´ mal, man möchte fast sagen rhythmisch und tonal neu gemischt werden, immer wieder in neuem Gewand erscheinen. Großartig, was Copland aus diesem Quartett machte, aber nicht minder großartig, wie Simone Dinnerstein es zum klingen brachte. Eine durch und durch überzeugende Technikerin, mitreißende Virtuosin. Nicht minder überzeugend die Variationen über den Eingangs chor der Bachkantate 101 (Nimm von uns, Herr, du treuer Gott) von Lasser. Von samtweich bis fordernd-dominant reichte die Bandbreite ihres Anschlages, sie zauberte Klänge aus dem Steinwayflügel, die anrühren, die aber auch ängstigen konnten. Der Duktus der Kantate, die Bitte um Schutz vor Krieg, Pest und Feuer, zog sich nachvollziehbar durch Dinnersteins interpretation. Die "Kinderszenen", Opus 15, von Robert Schumann eröffneten den zweiten Teil des Abends. Auch hier gab es vielfältige Gründe, die Ohren zu spitzen, angespannt auf der Stuhlkante zu sitzen. Wer auf sattsam bekannte kitschige Interpretation, insbesondere bei den zentral stehenden Träumereien, hoffte, wartete vergebens. Fast schon nüchtern und gerade deshalb hörenswert, schlank und kindgerecht war das, was den Festsaal erfüllte. Klanglich gewöhnungsbedürftig

Technisch brillant aber klanglich gewöhnungsbedürftig der Abschluss mit Ludwig van Beethovens Sonate Nr. 32 in c-Moll. Dinnerstein ließ sich hinreißen, brachte das Opus 111 manchmal fast zu nahe an Ragtime und Jazz. War das auch Mut oder ein bisschen frech? Einer Künstlerin am Anfang ihrer Karriere mag man das nach solch einem Abend gerne zugestehen. Dass sie ihr Publikum erobert hatte, zeigte der fast nicht enden wollende Applaus, für den sie sich mit drei Zugaben bedankte.

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