Nichts ist aufregender als das Leben

TRIER. Die Geschichte des Films beginnt mit dem Dokumentarfilm. Der erste Film handelte vom Alltagsleben: Arbeiter, die eine Fabrik verlassen; ein Zug, der in einen Bahnhof einfährt. Diese Aufnahmen der Brüder Auguste und Louis Lumière gelten als Geburtsstunde eines neuen Mediums.

Dokumentarfilmen haftet der Ruf lehrhafter Langeweile an. Gut dürften älteren Kinogängern die "Kulturfilme" in Erinnerung sein, die bis in die 1960er Jahre hinein dem Hauptprogramm vorangingen und denen kein Thema zu abwegig war, um es nicht in 15 bis 20 Minuten abzuhandeln. Niemand vermisste sie, als sie endgültig aus den Kinos verschwanden. Der Dokumentarfilm war dem Kino fürs erste abhanden gekommen und hatte sich im Fernsehen eingerichtet, für dessen staatlich verbrieften Informationsauftrag das Genre wie geschaffen war. Doch auch im Kino war das ungeliebte Genre nie wirklich tot, nachdem es in seiner Frühzeit einige Höhepunkte erlebt hatte. Dazu zählen etwa Walther Ruttmanns "Berlin - Sinfonie der Großstadt" (1927), Leni Riefenstahls "Triumph des Willens" von 1934, ein ungeachtet seines Inhalts in bildtechnischer Hinsicht grandios inszenierter Propagandafilm; Herbert J. Bibermanns "Salz der Erde" (1953), die Beschreibung des Kampfes mexikanischer Minenarbeiter um Gleichstellung. Obwohl der fiktionale Film den dokumentarischen in puncto Beliebtheit schon bald weit hinter sich ließ, profitiert er doch bis heute von dessen technischen, inhaltlichen und ästhetischen Prinzipien. So prägte er beispielsweise den Stil der US-amerikanischen Gangsterfilme der 1930er Jahre. Auch der "Neue deutsche Film", dessen Anfänge im "Oberhausener Manifest" von 1961 liegen, bediente sich der Stilmittel seines dokumentarischen Bruders. Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends setzt das Genre zu einem neuen Höhenflug an. Seit 1999 kam jedes Jahr mindestens ein Dokumentarfilm in die Kinos, der auf ungewöhnlich hohes Publikumsinteresse stieß, so zum Beispiel "Buena Vista Social Club" von Wim Wenders oder "Nomaden der Lüfte" von Jacques Perrin, Michel Debats und Jacques Cluzaud. Den Vogel schoss Michael Moore ab, und das gleich zweimal hintereinander.Realität ist die beste PR

2002 machte er mit "Bowling for Columbine" Furore, ein Oscar-gekrönter Film über die Waffennarrheit der Amerikaner, die das Schulmassaker an der Columbine High School in Littleton von 1999 - zwei Teenager erschossen zwölf Schüler und einen Lehrer - erst ermöglichte. Zwei Jahre später zog er sich den Zorn des amerikanischen Präsidenten zu, als er dessen ausgesprochen innige Verbindungen zu Saudi-Arabien in "Fahrenheit 9/11" offen legte. In beiden Fällen konnte Moore von der Realität als bester PR-Abteilung profitieren. Warum aber erfreuen sich Dokumentarfilme auf einmal so großer Beliebtheit? Tatsache ist, dass die heutigen Dokumentarfilme mit den blassen "Kulturfilmen" der Nachkriegsära nicht mehr viel gemein haben - weder die bildungsbeflissenen Themen noch die Ästhetik der verstaubten Bildsprache und der betulichen Kommentare. Hinzu kommt, dass immer mehr dokumentarische Elemente in Spielfilmen übernommen und entsprechend auch häufig fiktive Elemente in den Dokumentarfilm eingebaut werden. Dass unter diesen Voraussetzungen eine Dokumentation ebenso spannend sein kann wie ein Spielfilm, zeigte etwa Pepe Danquart mit seiner "Höllentour" - einem Bericht über die Tour de France 2003, für die er Bilder einfing, "die noch nie zu sehen waren" (Werbung). "Der Regisseur schwitzt, stöhnt, schweigt, analysiert, stürzt, triumphiert und verzweifelt mit den Athleten", heißt es in einer Kritik - ebenso wie das Publikum. Spannender kann auch ein Action-Film schwerlich sein. Möglicherweise hat das Publikum ein wenig den Spaß an der ewig gleichen fiktiven Konfektionsware vor allem amerikanischer Provenienz verloren und dafür die Lust auf Wahrheit für sich entdeckt - wenn es auch bei aller dokumentarischen Treue stets eine durchs Objektiv gefilterte Wahrheit ist. Dem Interesse an "Fakten-Filmen" entspricht jedenfalls der Trend auf dem Buchmarkt, mehr Fachliteratur als Belletristik zu kaufen. Vielleicht aber ist es auch die Neugier auf das Ungewohnte, Fremde, dessen Darstellung sich keinem festgeschriebenen Drehbuch unterwirft. "Dokumentarfilme", schreibt der spanische Kameramann Nestor Almendros (1930-1992), "stellen eine Form des Filmemachens dar, die einem erlaubt, die Dinge so zu filmen, wie sie passieren - ohne einzugreifen. Die Kamera liegt auf der Lauer, wie ein Jäger, und wartet auf Bilder, die die Wirklichkeit produziert." Nichts ist schließlich aufregender als das Leben.

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