Nichts ist ungeheurer als der Mensch

TRIER. Beklemmend, beeindruckend, aber auch ratlos machend: Die erste Studio-Produktion der neuen Theater-Spielzeit, Lars Noréns "Kälte", über drei Skinheads, die einen gleichaltrigen Mitschüler zu Tode prügeln, hinterlässt schwer beschreibbare Gefühle.

Es könnte ein schöner Sommertag sein. Das Schuljahr ist zu Ende, die Ferien beginnen, drei Jungs feiern im Wald. Es geht laut und lärmig zu, Mannbarkeitsrituale werden abgehalten, das Ganze wirkt wie ein Affenkäfig unter Alkohol. So geht es auf Koma-Partys zu, bei Motorrad-Treffen oder auf Volljährigkeits-Geburtstagsfeiern. Es wird um die Wette gesoffen und gerülpst, geprotzt und gehänselt. Aber an diesem Tag ist etwas anders: Es wird getötet. Warum Keith, Anders und Ismael den völlig sinnlosen, willkürlichen Mord begehen, warum sie alle zivilisatorischen Grenzen überschreiten, dafür liefert Lars Norén keine einfachen Erklärungen. Und schon gar keine Entschuldigungen. Keine Frage: Seine Täter haben alle kaputte Biographien. Aber von ihren desolaten Familienverhältnissen führt kein zwingender Weg zu ihrer Tat. Es ist die brandgefährliche Mischung, die an diesem Nachmittag explodiert: Eine krude nationalistische Ideologie, die latente Fremdenfeindlichkeit, die Lust am Experiment mit der Gewalt, die eigenen Verletzungen. Aber Norén zeigt deutlich, dass eines als Katalysator dazu kommen muss: Der Neid und das Gefühl der sozialen Desintegration. Kalle, das Opfer, hat alles, was die anderen vermissen: Anders als Keith hat er sein Abitur geschafft, im Gegensatz zu Ismael verfügt er über eine intakte Familie, im Unterschied zu Anders kann er sich das neueste Handy leisten. So projizieren die Täter ihre eigenen Komplexe auf den Umstand, dass Kalle, das Adoptivkind, ein "Schlitzauge" ist, geboren in Korea. "Findest du es richtig, dass einer, der kein Schwede ist, mehr hat als wir?", schreit ihn Keith an. Kalles - von Alexander Ourth glaubwürdig verkörperter - Versuch, dem Wahnsinn mit Vernunft zu begegnen, ist so sinnlos, als spräche er eine gänzlich fremde Sprache. Sein langsamer Weg in den Tod ist ein dramaturgisches Meisterstück. Fast unmerklich schleicht sich der Mordgedanke ein, immer wieder pausiert die Handlung, weckt beim Zuschauer die Hoffnung, es werde doch ein gnädiges Ende geben - um im nächsten Moment wieder an der Eskalationsschraube zu drehen. Das berührt Schmerzgrenzen, muss es auch, wenn das schreckliche Thema nicht verläppern soll. Aber diese Gefahr besteht bei der Trierer Inszenierung nicht eine Sekunde. Das Schauspielerquartett zeigt eine beängstigend intensive Präsenz, ohne sich dabei jemals gehen zu lassen. Da fließen Schweiß und Bier, da krachen Springerstiefel, da wird gespielt bis zur Selbstentäußerung - und trotzdem herrscht Präzision und ein Höchstmaß an darstellerischer Disziplin. Der junge Regisseur Steffen Popp demonstriert in seiner ersten Trierer Inszenierung bemerkenswertes handwerkliches Können. Und wichtiger noch: Er schafft es, die gezeigte Gewalt nicht zu verharmlosen und trotzdem keine Stuntshow zu produzieren. Wenn es wirklich gewaltsam zugeht, wird konsequent stilisiert und verfremdet. Das Ärgste findet im Kopf des Betrachters statt - und entfaltet gerade deshalb eine Intensität, die manchen im Publikum zum Wegschauen zwingt. Dem Regisseur und seinen Akteuren gelingt auch das Kunststück, die Figuren bei aller Unsäglichkeit nicht zu Abziehbildern werden zu lassen. Das Thema geht mit den Menschen nach Hause

Jan Brunhoeber zeichnet einen Keith, der zwischen Hass und Selbsthass, rechter Ideologie und Träumen von einer Idylle hin und her gerissen wird. Sozial integriert, wäre er mit seiner Intelligenz vielleicht Politiker geworden. Tim Olrik Stönebergs Anders ist ein Nachschwätzer und Mitläufer, dessen naive Lust am Töten den Weg in den Abgrund einläutet. Herbert Grönemeyer hat diesen Typus schon vor 25 Jahren in seinem Lied "Kino" beschrieben: "Ich wollte nur spüren, wie es ist, wenn man einen umbringt, nicht im Film, einfach live". Und da ist Christoph Bangerter als Ismael, selbst ein Außenseiter, vor dem Bürgerkrieg in Bosnien geflüchtet. Er mordet wie in Trance, um zu beweisen, dass er wenigstens zu diesem traurigen Häuflein dazugehört. Irgendwann ist das Stück aus. Norén verweigert ein Ende, das das Publikum für sich als Schlussstrich verwenden könnte. Das Thema geht mit den Menschen nach Hause. Da nützt auch der lange, bewegte Beifall im kleinen Studio-Saal nichts. Oben, im großen Haus, lässt Horst Ruprecht seine grandiose Inszenierung der "Alten Dame" mit einem Zitat aus der "Antigone" des Sophokles beginnen und enden: "Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch". Präziser lässt sich auch "Kälte" nicht auf den Punkt bringen.

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