PREMIERE

TRIER. Was ist der Mensch, seine Biografie, seine Gefühle, seine Individualität noch wert in einer ökonomisierten Gesellschaft, für die nur der Nutzwert seiner Arbeit zählt? Der Berliner Autor Falk Richter stellt sich dieser Frage mit einem Trumm von Theaterstück, das im Trierer Studio atemberaubend in Szene gesetzt wird.

 Umzingelt von seinen "Coaches" (Alexander Ourth, links, und Frédéric Frenay): Paul Niemand (Jean Paul Maes). Das Bühnenbild stammt aus dem Luxemburger Kapuzinertheater, mit dem "Unter Eis" koproduziert wurde. Foto: Theater

Umzingelt von seinen "Coaches" (Alexander Ourth, links, und Frédéric Frenay): Paul Niemand (Jean Paul Maes). Das Bühnenbild stammt aus dem Luxemburger Kapuzinertheater, mit dem "Unter Eis" koproduziert wurde. Foto: Theater

Nun hat's ihn erwischt, den Paul Niemand. Jahrelang hat er als Top-Berater bei der Firma "Outsourcing Unlimited" die Rationalisierungspläne ausgearbeitet und die Entlassungslisten zusammengestellt. Und jetzt sitzen ihm zwei jungdynamische Consulting-Kollegen im Genick und beweisen ihm, dass seine eigene "personal effectiveness" nicht mehr dem für eine Weiterbeschäftigung erforderlichen Standard entspricht. Sie mobben ihn nach allen Regeln der Kunst aus dem Laden, müssen aber am Ende feststellen, dass ihnen über kurz oder lang ein ähnliches Schicksal blüht. Diese nüchterne Inhaltsangabe klingt nach einem "Fernsehspiel der Woche". Aber Falk Richters Stück "Unter Eis" ist etwas völlig anderes. Denn Paul Niemand ist längst nicht mehr in der gleichen Welt wie seine Widersacher. Er ist eingetaucht in seine eigene, kaputte Biografie, spürt seiner Kindheit in einem wirren Elternhaus nach und den eigenen, einsamen Kinderfantasien. Und er revanchiert sich, indem er den Start von Flugzeugen verzögert, weil er nach dem Einchecken einfach dem Flieger fern bleibt. "Man bemerkt mich nur, wenn ich abwesend bin", sagt er. Zwischen seiner Welt und der seiner beiden Personalmanager ist keine Verständigung mehr möglich. Es gibt keine gemeinsame Sprache. Das Consulting-Duo ist längst entschwunden im Kauderwelsch aus Meetings, Feedback, Zeitmanagement, Kreativitäts-Training, Kundenbewusstsein, Markenorientierung, "Pressure Handling", hinter dem sich doch nur eines verbirgt: die Arbeitskraft des Einzelnen so optimal wie möglich für den Verwertungsprozess nutzbar zu machen. Selbst Freizeitgestaltung und Beziehungen werden Trainingsprogrammen unterworfen, weil unglückliche Mitarbeiter eben weniger Leistung generieren können. Richters sprachliche Beobachtungsgabe ist phänomenal. Das geht bis hin zu einer zynischen Art von Kabarett, wenn Frédéric Frenay in einem brillant gespielten Schnellkurs die Logik moderner Personalführung und Entscheidungsstrukturen umreißt, die darin gipfelt, dass der ideale Mitarbeiter, wenn seine Leistungsfähigkeit nachlässt, sich freiwillig verabschiedet, um nicht den Erfolg des Unternehmens zu gefährden. Da bleibt einem das Lachen im Hals stecken, weil zwischen Absurdität und Realität nur noch eine winzige Lücke klafft. Es geht aber auch saukomisch zu, etwa wenn der starke Alexander Ourth das auf "Bedürfnis-Research" basierende Betriebskulturprogramm vorstellt.Den Verstand verloren und gerade deshalb Mensch

Herausragend Jean Paul Maes als Paul Niemand, schon von der Körpersprache her eine Fleisch gewordene Irritation. Einer, der den Verstand verloren hat angesichts all der Zumutungen - und gerade deshalb einziger Mensch unter Charaktermasken. Beeindruckend Joe Jakobi als kindliches Alter Ego. Weil dieses Stück eigentlich nur aus Wortkaskaden besteht, ist es mordsmäßig schwer zu spielen und nur mit hohem Risiko zu inszenieren. Renate Ourth überzeugt mit klaren Strukturen, ausgetüftelten Klang- und Bildimpressionen und einer sehr stringenten Schauspielerführung. Langer Beifall, sichtlich beeindruckte Besucher. Kein gemütlicher Abend, aber allemal ein lohnenswerter. Vorstellungen am 15. und 21. März im Studio.

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