Plädoyer für ein zauberhaftes Genre

TRIER. Eine Zauberin auf einer einsamen Insel, die ihre Liebhaber in Tiere verwandelt, verliebte Paare in verschiedenen Konstellationen, gefühlsmäßige Irrungen und Wirrungen: Das sind die Zutaten bei Händels Oper "Alcina", die im Trierer Theater erfolgreich Premiere feierte.

 Mehr als eine zickige Zauberin auf einer Südsee-Insel: Annette Johanssons Alcina.Foto: Friedemann Vetter

Mehr als eine zickige Zauberin auf einer Südsee-Insel: Annette Johanssons Alcina.Foto: Friedemann Vetter

Die erste Überraschung schon bei der Ouvertüre: Ganz langsam wächst das Orchester aus dem Graben heraus, wandert, von einem Hubpodium getragen, Zentimeter um Zentimeter höher, bis die Musiker knapp unterhalb der Bühnenkante sitzen und die Spitze der Harfe ins Szenenbild hineinragt. Ein Bild mit Symbolcharakter, denn die Philharmoniker unter Leitung von Franz Brochhagen verdienen an diesem Abend einen Platz ganz oben auf dem Podest. Kaum zu glauben, dass diese Truppe seit Jahrzehnten keine Barockoper mehr gespielt hat. Vom ersten Ton an vereinigen sich Esprit, Präzision und Taktgefühl. Das Klangbild ist anfangs noch etwas schroff, aber schnell findet das Orchester seinen Zugang zu Händel: Einen schönen barocken "Swing" in den belebteren Passagen und eine Mischung von überirdischer Schönheit und erhabener Melancholie im Zusammenwirken mit den Solisten. Das ist ein treffliches Plädoyer für die Barockoper, inspirierend geleitet vom Dirigenten, der mit dem vorzüglichen Continuo (Jörg Sonnenschein, Ralf Soiron, Takashi Miura) auch die Rezitative begleitet.Zwiespältige szenische Eindrücke

Anders als die Musik hinterlässt die szenische Seite zwiespältige Eindrücke. Das hat damit zu tun, dass sich Regisseur Marcus Lobbes entschieden hat, "Alcina" als leichtgewichtige Komödie zu begreifen. Wobei der Spaß durchaus gelungen ist. Anleihen an die Commedia dell'arte, märchenhaft-stimmungsvolle Effekte mit fliegenden Teddybären, Hawaii-Strand-Atmosphäre mit Neon-Plastik-Mobiliar: Das sind starke, symbolträchtige Bilder auf einer intelligenten Bühne (Pia Mackert), die mehrere Spielebenen optisch hintereinander gliedert. Lobbes sorgt für Kurzweil, ohne dass er die Szenerie überlädt. Das ist schon eine Menge für eine Barock-Oper. Aber da fehlt was. "Alcina" ist mehr als ein Kindermärchen um eine zickige Insel-Zauberin und ein paar lustige Liebeswirren bei einer Südsee-Pauschalreise. Händels Musik erzählt von Leidenschaften und Abgründen, von ernsthafter Liebe und differenzierten Charakteren. Aber dafür interessiert sich Lobbes (zu) wenig. So bleibt alles an der Oberfläche, ein kollektives "So-tun-als-ob", wie bei den Kostümen von Nina Reichmann, die den Rahmen des Biederen nie sprengen. Die Solisten verleihen den Figuren Tiefe

Zum Glück sind da Solisten wie Annette Johansson, die den Figuren Tiefe verleihen. Wobei gerade bei ihrer Alcina der Kontrast zwischen der ehrlichen Tragik von Händels Musik und den Comedy-Elementen der Szene bisweilen schmerzhaft spürbar wird. Eine Zauberin, die ihr Leben lang Männer benutzt und weggeworfen, sprich in Tiere verwandelt hat, und die ausgerechnet denjenigen, den sie wirklich liebt, verliert, und damit ihre Macht und ihr Inselreich: Johansson leiht dieser Alcina ihre ganze Ausdrucks-Intensität, schenkt ihr betörend gestaltete Melodiebögen, kostet das Sucht-Potenzial der Händel-Musik aus. Man kann, keine Frage, die Rolle artistischer singen, halsbrecherischer in den Koloraturen. Aber Dirigent Brochhagen hat seinen Sängern bei den (nicht improvisierten, sondern eingeübten) Verzierungen keinen Wettbewerb mit den großen Koloratur-Spezialisten des Fachs aufgezwungen, und das ist gut so. Dennoch ist kein "Händel light" daraus geworden, die Varianten sind nicht simpel, sondern sängerisch anspruchsvoll. Was vor allem Evelyn Czesla als Morgana genießt, die vom Trierer Ensemble fraglos am besten mit der Ausdruckswelt der Barockmusik umgehen kann. Sie wirkt, als würde sie mit den enormen Anforderungen spielen, nicht kämpfen. Erstaunlich Eva-Maria Günschmanns "Bradamante", schon deshalb, weil es auf dieser Welt nicht viele Sängerinnen gibt, die parallel Carmen und Händel singen und dabei bestehen. Respektabel, wie sich Andreas Scheel (Melisso) und Eric Rieger (Oronte) auf ungewohntem Terrain schlagen. Bleibt der spektakuläre Gast. Was die Virtuosität angeht, ist Oliver Mays "Ruggiero" höchsten Ansprüchen gewachsen. Der Counter-Tenor bewegt sich mit phänomenaler Gelenkigkeit auf dem sängerischen Hochseil, erobert selbst Sopran-Höhen mit einer Exaktheit und Mühelosigkeit, die die Frage aufwirft, warum er nicht längst für große Bühnen entdeckt worden ist. Bei May gibt es, umgekehrt wie bei Johansson, allenfalls Abzüge in der B-Note. Ausgerechnet seine melancholische Parade-Arie "Verdi prati" kommt flach daher, allerdings unglücklich an den Start des 3. Akts (um-)platziert. So wie überhaupt manche Eingriffe in das Stück - wie der Wegfall einer kompletten Figur - keine puren Glücksgefühle hinterlassen. Andererseits machen die Kürzungen und Umstellungen ebenso wie die erläuternden Übertitel und die wortverständlichen deutschen Rezitative die Barock-Oper sozialverträglicher. Am Ende der intensivste, herzlichste Beifall, der diese Spielzeit im Trierer Musiktheater zu hören war. Und die Hoffnung, nicht wieder 30 Jahre warten zu müssen.

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