Reiche Perspektiven auch auf halbem Weg

TRIER. Vor einigen Jahren musste man für eine Johannes-Passion mindestens zweieinhalb Stunden ansetzen. Am Samstag genügten in der Konstantin-Basilika 120 Minuten. Martin Bambauer hat nicht gekürzt, sondern erprobt ein anderes Konzept.

Eingangschor. Das exzellente Instrumentalensemble "L'arpa festante" spielt die Streicher-Sechzehntel und lang gezogenen Bläser-Überschneidungen rasch, behend, fast tänzerisch und ohne sinfonischen Beiklang. Und dann setzt der Trierer Bach-Chor ein: deutlich, mit klarem, konturenreichen Klang, dabei federnd und beweglich.Ein anderer, zeitgerechter Bach-Interpretationsstil

Es ist ein anderer, zeitgerechter Bach-Stil, den Martin Bambauer praktiziert: Weg vom klangmassiven Bekenntnis, hin zu einer feineren, weniger lastenden Interpretation. Freilich auch mit der Gefahr von Eile und Harmlosigkeit. Und vielleicht auch mit einer durchaus zeitgeistigen Tendenz zur Säkularisierung und Neutralisierung. Dabei überzeugen die unverspannte Chorkultur, der farbige Instrumentalklang und die leichte Hand des Dirigenten. Der Trierer Bach-Chor liefert ein Glanzstück an Markanz und Durchsichtigkeit. Das Instrumentalensemble begnügt sich nicht mit passivem Mitspielen, es setzt eigene Akzente und bleibt doch im Rahmen der Interpretation. Die hat Profil und Probleme zugleich. Denn mit der Bekenntnis-Tonfall des älteren Bach-Stils droht auch die Theologie dieser Passion unterzugehen. Dem zentralen Choral "Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn" fehlt der Nachdruck, fehlt die religiöse Tiefe. Auch in anderen Sätzen ist eine Neigung zur Oberflächlichkeit spürbar. Aus einem Bekenntniswerk droht ein religiöses Konzertstück zu werden. Tempi geraten rasch und Pausen kurz. So bleibt nach der Todesnachricht die nachdenkende, ergriffene Stille aus, wie überhaupt Ruhepunkte und Atempausen oft fehlen. Freilich geht auch Bach mit der nächsten, erstaunlich munteren Bass-Arie sofort wieder zur musikalischen Tagesordnung über. Und überhaupt: Erstaunt der Interpretations-Zwiespalt angesichts einer Komposition, an der Bach 25 Jahre arbeitete ohne zu einer definitiven Fassung zu kommen? Der Dirigent entdeckt nämlich auch Neues. Wo sich seine leichte Hand mit geschärfter Artikulation verbindet, eröffnen sich reiche Perspektiven. Die Tenor-Arie am Ende des ersten Teils läuft sich planvoll und textgerecht tot - ein Petrus ohne Aussicht. Die Turbae, die Volkschöre dieser Johannes-Passion, geraten energisch, bisweilen scharfzüngig, bisweilen allerdings ohne den bösartigen Tonfall, der ihre dramatische Markanz verstärken würde. Der sängerisch nicht ganz einfache Soldatenchor "Lasset uns den nicht zerteilen" - wieviel zynischer Schwung, welch rohe und doch spielerische Distanz klingt da mit! Dem römischen Militär ist der angebliche Messias völlig gleichgültig. Und die drei letzten Choräle, sie klingen fließend, befreiend, aufatmend. Der Druck von Leiden und Tod löst sich. Es ist eine interessante Konzeption - vorläufig und zugleich reich an Perspektiven. Das spiegelt sich im Solistenensemble. Tilman Kögel singt den Evangelisten mit hellem Rezitativton, bleibt freilich fast alles an Ausdruckskraft und sängerischer Sicherheit schuldig. Susanna Rischs leuchtender Sopran gibt den beiden Arien den treffend hellen, optimistischen Grundzug; sie hat ihr Potential noch längst nicht ausgeschöpft. Die Altistin Susanne Krummbiegel besticht durch die schlanke, gradlinige Tongebung, die vorbildlich deutliche Diktion, ohne die mal zaghafte, mal triumphierende Stimmung in der großen Arie "Es ist vollbracht" ganz zu vermitteln. Gregor Finke, Bass, glänzt in den Arien mit schnörkelloser Klangkultur und perfekter Sprache - trotz fehlender Tiefe. Der Christus indes gerät dem sängerisch tadellosen Patrick Simper zu diesseitig-sonor, zu wenig charismatisch.Aus einem Barock-Mausoleum wird ein zarter, sanfter Abschied

Trotz aller Schwierigkeiten, diese Johannes-Passion war reich an Schönem, Eindringlichem. Am Ende verfliegen alle Zweifel: Dieses Konzept hat Zukunft. Martin Bambauer betont im Schlusschor dem gemessen-tänzerischen Sarabandenrhythmus des Satzes. Aus dem wuchtigen Barock-Mausoleum traditioneller Interpretation wird ein sanfter, zarter, mitfühlender Abschied. Endlich einmal wirken die zahlreichen Wiederholungen in diesem Satz nicht monoton, sondern fast wie in sich kreiselndes, stilles Gebet. Und der letzte Choral, in dem Bach so unwiederholbar persönlich und bekennend aus dem Passionsdrama heraustritt, er klingt hell und schlicht und erhält erst im zweiten Teil eine Spur von optimistischem Pathos. Ein bewegender Schluss. Lange, nachdenkliche Stille in der gut besuchten Konstantin- Basilika. Erst dann setzte der Beifall ein.

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