Rettung für fast verlorene Kinokunst

Mainz/Morbach · Ein Stück deutsche Filmgeschichte ist für die Nachwelt bewahrt worden: Fünf Jahre lang hat ein Team um den Hunsrücker Filmemacher Edgar Reitz den ersten Teil von dessen Heimat-Trilogie restauriert und digitalisiert. Entstanden ist ein Werk mit deutlich besserer Bild- und Tonqualität. Am Wochenende ist die neue Fassung von "Heimat. Eine deutsche Chronik" in Mainz gezeigt worden.

Mainz/Morbach. Was passiert mit Filmkopien, die mehr als 20 Jahre alt sind? Das Material schrumpft, wird brüchig, die Farben lösen sich auf, Schwarz-weiß-Sequenzen verlieren ihre Kontraste. Im schlimmsten Fall löst sich die fotografische Schicht vom Trägermaterial, und die Bilder verschwinden.
Diese Erkenntnis traf den aus Morbach (Kreis Bernkastel-Wittlich) stammenden Filmemacher Edgar Reitz vor zehn Jahren wie ein Schock, als er nach einer Anfrage eines italienischen Kinobetreibers feststellen musste, dass die letzte Kinokopie von "Heimat. Eine deutsche Chronik" (siehe Extra) nicht mehr abspielbar war. Auch das Originalnegativ, das im Bundesarchiv lagerte, war nach Angaben des Hunsrückers, der mit seiner Heimat-Trilogie Filmgeschichte geschrieben hat, nicht mehr zu kopieren.
Der erste Teil der heute weltweit bekannten Reihe ist mehr als nur ein Film. Für den heute 82-jährigen Regisseur bedeutete er 1984 nach einer Lebenskrise den nationalen und internationalen Durchbruch. Und für die Deutschen ist die damals elfteilige Reihe ein Werk über ihre eigene Geschichte, erzählt anhand einer Hunsrücker Familie, und zugleich ein bedeutendes Zeugnis deutscher Filmkunst.
Reitz habe mit seinen Werken den Begriff von Heimat zu dem gemacht, was ihn mittlerweile auch international auszeichne, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer am Sonntag bei der Präsentation der restaurierten und digitalisierten Kinofassung "Heimat remastered" im Frankfurter Hof in Mainz. Heimat sei "nicht nur eine Gegend und eine Region, in der man zu Hause ist. Heimat ist in ganz entscheidendem Maße auch ein Gefühl". Dreyer lud die 400 Gäste der Vorpremiere ein, die neue Fassung zu betrachten wie einen Ort, den man schon lange kennt, an dem man aber doch immer wieder Neues entdeckt. Dieser Vergleich stimmt nicht ganz. Denn die Kinofreunde haben nicht bloß die wiederhergestellte Fassung der 30 Jahre alten Folgen gesehen. Bei der Restaurierung ging es vielmehr um eine Annäherung an ein Original, das nicht mehr existiert.
Ein kleines Team um Edgar Reitz und seinen Sohn Christian restaurierte und digitalisierte, was vom Ursprungswerk noch vorhanden war, berichtete der Regisseur am Sonntag im Gespräch mit Kulturstaatsekretär Walter Schumacher. Bei jedem einzelnen der 1,5 Millionen Einzelbilder musste eine Vielzahl von Fragen beantwortet werden: Welche Farbe hatte der Rock in der einen Szene, wie grün war die Wiese in einer anderen? Das Endprodukt habe eine Bild- und Tonqualität, wie sie in den 1980er Jahren mit der analogen Technik noch nicht möglich gewesen sei, aber auch einen eigenen Charakter. Finanziell wurde das Projekt von der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und der Bundeskulturstiftung mit 136 000 Euro unterstützt.
Für Reitz handelt es sich nicht um ein Bewahren um des Bewahrens willen. Er hat auch das aktuelle Publikum im Blick und ist überzeugt, dass heutige Cineasten auch einen "neuen Blick auf das Werk" haben werden.
Wer "Heimat remastered" sehen wollte, brauchte Sitzfleisch. Die Zuschauer saßen insgesamt 16 Stunden im Kinosessel. Eine Herausforderung? Edgar Reitz ist nicht dieser Meinung. Wer gute Literatur lese, investiere oft mehr Zeit in ein Buch. Allerdings müsse man für das Kino neue Formen entwickeln. Warum sollte man nicht einen Kinofilm sehen, so wie man Literatur lese, im eigenen Rhythmus? Reitz schwebt vor, elf Kinos zu finden, in denen die elf "Heimat"-Folgen parallel laufen, jede Folge in einem anderen Kino. So könne der Zuschauer entscheiden, wann er sich welchen Teil ansehe. Die Premiere von "Heimat remastered" ist am 27. und 28. Februar in Berlin.Extra

Der erste Teil der "Heimat"-Trilogie feierte 1984 in einer Fernseh- und einer Kinofilmfassung Premiere und wurde weltweit von Millionen Zuschauern gesehen. 1992 folgten der zweite, 2004 der dritte Teil des Jahrhundertepos über die Hunsrücker Familie Simon in Schabbach. Mit "Die andere Heimat" setzte Reitz sein Lebensthema mit einer Geschichte über die Auswanderungswelle aus dem Hunsrück im 19. Jahrhundert fort. Der Film kam 2013 in die Kinos und gewann unter anderem den Deutschen Filmpreis. iro

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