Sanfte Schritte in die Zeitlosigkeit

GROSSLITTGEN. Musik vom Mittelalter bis zur Moderne und doch mehr als nur Musik: Die zweite Zisterziensernacht in der fast voll besetzten Klosterkirche Himmerod war eine Oase der klingenden Meditation.

Sie versenken sich singend ins Gebet, sprechen die uralten Worte der Bibel nach, stimmen die alten gregorianischen Melodien an, empfangen am Schluss den Segen des Abts. In der Komplet bereiten sich die Mönche der Abtei Himmerod auf die Nacht vor. Am Tor zur Dunkelheit beten sie in Tönen einen Psalm, singen einen Hymnus und am Schluss die Marien-Antiphon "Salve Regina". Draußen läuten die Glocken. Und nur wenig später entfaltet Reinhard Schimmelpfeng in der erwartungsvollen Stille der Klosterkirche mit Saiten- und Blasinstrumenten und mit seiner Stimme Obertonmusik. Eine zarte, zerbrechliche, eine faszinierende Klangwelt. Harmonische Schwingungen, schwebend, ortlos, wohl geordnet und wunderbar umfassend. Die zweite Himmeroder Zisterziensernacht war eine Nacht fürs Ohr, fürs aufmerksame Zuhören, fürs sensible innere Mitschwingen: Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Verstehen, Einfühlen, Meditieren und sich hörend einer Sache hingeben. Der Raum öffnet sich. Die Zeit mit ihren Begrenzungen verschwindet. Eine Oase für den gehetzten, unter Arbeitsverdichtung und Termindruck leidenden Mitmenschen.Schlanke, transparente Orgel-Klänge

Schade, dass das Orgelkonzert aus dem Konzept herausfiel. Dabei musizierte Elke Völker exzellent. Selten nur klingt die Klais-Orgel so schlank und transparent. Der empfindsame Tonfall des Carl Philipp Emanuel Bach, Mozarts düstere Dramatik, die Klang- und Ausdrucks-Vielfalt bei Karg-Elert und die fast erschreckend visionäre Kraft bei Messiaen: Das war höchstes Niveau und blieb doch ein Fremdkörper, ein Intermezzo, ein Übergang nur zum Zentrum der Zisterziensernacht. Die "Missa cisterciensis" stammt aus dem berühmten Codex "Las Huelgas" (um 1300) und wurde durch zwei Motetten aus derselben Zeit ergänzt. Michael Ziegler, Hagen Matzeit und Burkard Wehner vom Berliner Ensemble "Vox Nostra" singen diese Stücke, die zum Teil auf frühe Schichten der Mehrstimmigkeit zurückgreifen, perfekt und diesseitig: kraftvoll in der Tongebung und ohne Scheu vorm wohlklingenden Forte. Dazu Arvo Pärts (geb. 1935) kreiselnder, in sich ruhender Zyklus "Trivium", zwei weniger profilierte, aber doch gehaltvolle Kompositionen des Leiters Andreas Behrendt und Friedemann Matzeits faszinierende Saxophon-Improvisationen. All das vermittelt eine faszinierende meditative Wirkung, sanfte Schritte in eine Zeitlosigkeit, die für viele heilende Kraft haben könnte. Dahinter steckt freilich ein neuzeitliches Verständnis mittelalterlicher Musik. Ob wir erfassen, was die Menschen um 1300 dabei bewegte? Mehrstimmigkeit galt als vulgär und unanständig - nicht nur bei engstirnigen Klosterbrüdern, sondern auch bei Nikolaus von Kues. Aber zur Beschäftigung mit der Vergangenheit gehören die offenen Fragen. Verstehen heißt auch Innehalten vorm Unverstandenen. Ein Ende weit nach Mitternacht. Die Besucher tappen durch die Dunkelheit. Am Firmament funkeln die Sterne. Schweigen, Harmonie und Geheimnis.

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