"Seht da, der Mensch"

TRIER. Die Karfreitagsnacht des Spee-Chors ist für viele Trierer zur festen Größe im Osterfestkreis geworden. Wieder einmal drängten sich die Besucher in der Jesuitenkirche. Sie erlebten ein dramatisch geschärftes Eingedenken der Passion Christi.

Es ist wie ein Signal. Mit energischer Gestik beschwört Martin Folz zu Beginn die holzschnittartige Dramatik in der einleitenden Motette "Timor et Tremor" von Francis Poulenc, und der Spee-Chor schärft Dynamik und Artikulation, wagt sich auch ins Fortissimo. Und es ist wie ein Symbol: Die übervoll besetzte Trierer Jesuitenkirche bleibt im hellen Lampenlicht. Karfreitag lässt sich auch in mystischem Dunkel zelebrieren. Die Karfreitagsnacht von Spee-Chor und "Ensemble 85" war anders - dramatisch, am Wort orientiert und rational reflektierend.Etwas Fremdes steckt in dieser Musik

"Ecce homo" - seht da, der Mensch, lautete das Motto des Programms. "Ecce Deus" - seht da, der Gott, ergänzte Engelbert Felten. Menschlichkeit und Gottsein, beides spiegelt sich in den "sieben letzten Worten", die in einer Vertonung von Knut Nysted im Mittelpunkt des Programm standen. Und Engelbert Feltens knappe, konzentrierte und inhaltsreichen Zwischentexte nahmen diese "sieben Worte" als Anstöße zum Weiterdenken. Auf dem Programm stand ausschließlich Musik des 20. Jahrhunderts. Musik mit ganz unterschiedlicher Stilistik. Eins haben die Kompositionen gemeinsam: Sie rütteln auf, sie bleiben wortbezogen und verständlich, aber sie erwecken trotzdem niemals falsche Vertrautheit. Etwas Fremdes, das aufhorchen lässt, steckt in den drei, teils holzschnittartig spröden, teils versonnen zärtlichen Motetten von Francis Poulenc, im cäcilianisch sanften "Gratias" von Heinrich Sutermeister, in Sven-David Sandströms an harmonischen Reibungen und Glissandi reichen "Kyrie". Die "Sieben letzten Worte" von Knut Nystedt schildern das Leiden des Gottessohns aphoristisch knapp und doch sinnfällig. Sogar das "Agnus Dei" von Urmas Sisask, das ein Thema in unterschiedlichen Kanon-Varianten durchführt und am Ende in Fragmente zerfällt - sogar diese Komposition bringt das Thema "Passion" in einer glasklaren, intellektuellen, ja, beinahe protestantischen Deutlichkeit zur Sprache. Spee-Chor und "Ensemble 85" musizierten diese Kompositionen beredt und bewegend. Sie glänzten mit Helligkeit, Schärfe, Kontrastreichtum, Wort-Deutlichkeit, stilistischem Einfühlungsvermögen und manchmal einer fast überwältigene Klangfülle. Da verlor sich alle kritische Distanz, und im Bewusstsein blieb das zentrale Thema dieser Karfreitagsnacht: "Ecce homo" - Gott als erniedrigter, verzweifelter, sterbender Mensch. Eine eindringliche Veranstaltung. Kein Stimmungserlebnis, sondern eine tiefgreifende, ja, existenzielle Auseinandersetzung mit Leiden und Tod Jesu - und mit dem Leiden und Tod der Vielen, von denen niemand erzählt. Der Beifall klang schüchtern und verhalten. Manche Besucher blieben noch nachdenklich in ihren Bänken, und vor der Kirche versammelten sich andere für einige Zeit in Dreier- und Vierergruppen. Gespräche, Diskussionen, wohl auch Ausdruck von Gemeinschaft nach gemeinsam Erlebtem.

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