Selbst die Nacht schreit ihren Namen

TRIER. Ausnahmezustand in der ausverkauften Arena Trier: Tokio Hotel ist die mit Abstand angesagteste deutsche Teenie-Band. Reihenweise kippten die jungen Fans um (siehe nebenstehenden Artikel). Dabei sorgen die vier Teenies aus Magdeburg in guter alter Pop-Tradition für Gräben zwischen den Generationen.

Kurz nach neun scheint die Stille zurück. Der letzte Schrei geschrieen. Bill, Tom, Gustav und Georg - alias Tokio Hotel - sitzen wieder im Nightliner. Werden Trier schnell verlassen. Aber Stunden später sind die Magdeburger noch in den Köpfen der Fans. Der TV lässt drei Generationen den Abend Revue passieren. Das ist zwar rein fiktiv, aber durchaus realistisch. 2 Uhr nachts. Jenny aus Trier, 13 Jahre alt, wälzt sich im Bett. Ich kann nicht schlafen. Muss immer an Bill denken. Daran, wie er mich angelächelt und für mich gesungen hat. Er hat mein "Du bist der Beste"-Plakat gesehen, bestimmt. Ich verstehe ja nicht, was Jeanette an Tom findet. Wir haben doch sonst den gleichen Geschmack. Ob Tom, der Gitarrist, echt Bills Zwillingsbruder ist? Den Tom kann sie haben. Aber Bill ist ein Traum. Ist nur drei Jahre älter als ich. Wie bei Mama und Papa. Das würde so gut passen. Wie Bill meinen Bauch zum Kribbeln bringt. Auch die neue Frisur ist der Hammer, seine dunklen Augen sind es sowieso. Bill ist ganz anders als die Langweiler aus meiner Klasse. "Lebe die Sekunde", singt er in mein Ohr. Das ist unsere Welt, unsere Zeit. Nicht eure. Warum kann er jetzt nicht hier sein? Warum hat er nicht mich zum Singen auf die Bühne geholt, sondern diese Sarah? Als er eben in der Arena den Steg runtergelaufen ist, war ich ganz nah bei ihm. Das war der geilste Moment meines Lebens. Papa wird das nie verstehen, der hat Bill ja auch für ein Mädchen gehalten, als "Durch den Monsun" auf MTV lief. Tokio Hotel rockt - und Bill ist der größte aller Rocker. Wer das nicht checkt, ist nur ein dummer Erwachsener. Ja, auch du, Papa. Oder hast du auch den "Comet" gewonnen oder es auf "Bravo"-Poster geschafft? Und, Oma Rita, sag' kein Wort gegen TH: Du hast sogar bei den lahmen Beatles geschrieen. Zeitgleich, irgendwo in einem anderen Trierer Schlafzimmer. Michael, 30, war dienstlich beim Konzert. Kann nicht schlafen. Eigentlich müsste es still sein. Aber zwischen meinen Ohren schreit alles. In Frequenzen, von denen ich nicht wusste, dass es sie überhaupt gibt. Als hätte Müntefering sein komplettes Heuschrecken-Geschwader mal kurz zum Soundcheck in mein Gehirn abkommandiert. Alles nur wegen vier Teenies. Ich rekapituliere: Tokio Hotel, Arena Trier, früh am Abend. "Schrei, so laut du kannst", ruft das 16-jährige Sing-Bürschchen, Bill oder Mandy oder wie auch immer es heißt. Super Idee. Ungefähr acht Millionen zwölfjährige Mädchen neben mir gellen daraufhin, als wäre ein ausgewachsener Tinnitus nur was für Weicheier wie mich. Komisch, Bill und ich sind die Einzigen, die nicht schreien. Wären wir in den USA, bekäme Kill Bill eine saftige Klage an den Hals. Anstiftung zur Körperverletzung, da kennen die nix: fünf, sechs Millionen Dollar Schmerzensgeld - und die Ohren-Sache wäre vom Tisch. Die Musik ist ja okay. Passabler Rock, den man anderswo schon ähnlich gehört haben mag, wenn man mehr als zwei CDs im Regal stehen hat. Sind immerhin auch keine debil-tanzenden Grinse-Mutanten, die vorher den gereckten Bohlen-Daumen gesehen haben. Sympathisch. Deshalb muss man zwar nicht gleich umfallen. Aber ich wäre bestimmt auch nicht zynisch, wenn ich noch in einen Rockstar verliebt wäre. Und bei Dr. Sommer war ich auch lange nicht mehr in Behandlung. Keine Ahnung, wie viel von Tokio Hotel Marketing ist und wie viel echt. Apropos: Was machen überhaupt "Echt" heute, die ersten Teenie-Helden unseres gemeinsamen Millenniums? Lebe schnell, denn noch schneller wirst du vergessen. So heißt es doch, oder? Petra, 45, Mutter von Jeanette, der besten Freundin von Jenny - auch sie macht kein Auge zu: Ich kann nicht schlafen. Meine kleine Jeanette ist kaum wiederzuerkennen. So habe ich sie noch nie erlebt, wie in der Arena. So begeistert, so aufgelöst. So entfernt von mir. Was sie bloß an dem Jungen findet? "Das ist nur eine Phase", sagen alle. Pubertät und so. Hoffentlich. Aber ausgerechnet dieser Tom, dieser laute Gitarrist. Mit verfilzten Haaren und Nasenring. Den müsste sie jetzt nicht gerade mit nach Hause bringen. Sie könnte sich ohnehin noch Zeit lassen damit...

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