Spitze, bis der Kragen platzt

Spitze? Diese betulichen Deckchen? Och nööö. Oder? Im belgischen Brügge jedenfalls gibt man dem alten Handwerk noch eine Chance: "Spitze und Design" lautet der Titel eines Festivals, das Mitte November eröffnet wurde und noch bis März die Besucher in die Stadt der Schwäne, der Kanäle und der Klöppelware locken soll. Künstler und Designer haben sich mit frischen Ideen an neue Kreationen gemacht, in fünf Museen und an etlichen anderen öffentlichen Orten sind ihre Arbeiten zu sehen. Zum Beispiel im "Concertgebouw": Mitten in der Eingangshalle hat Alphons ter Avest zwei riesige Spitzenkringel auf den Boden gezaubert - aus Zucker. "Zwei Planeten" heißt das Werk, und es soll, wie der Künstler sagt, die beiden Welten von Islam und Christentum symbolisieren. Eine gefährliche Platzierung: Schon am ersten Tag werden sie von unachtsamen Besuchern mit Füßen getreten. Warum widmet er sich der "Kant", wie die Klöppelei im Flämischen heißt? "Es kommt ja ganz nah an den Kitsch heran", sagt er. "Aber es ist eben aus dem Volk, von der Basis." Mit etwas zu arbeiten, "das meine Oma zu Hause macht", daraus erwachse für ihn der Reiz. Im Gezelle-Museum (benannt nach dem Dichter Guido Gezelle) sind einige der witzigeren Arbeiten versammelt: So hat die kanadische Künstlerin Cal Lane dort fünf Schaufeln und eine Schubkarre ausgestellt - aus rostigem Stahl, mit eingefrästem Spitzenmuster. Bezaubernd geschmacklos: Das in Gips gegossene Gehirn des Dichters, mit Spitzenkragen und in dreifacher Ausführung. Spitze aus Brügge, das war einmal etwas ganz Besonderes: "Weil es so verfeinert war, dass man es Feenwerk nannte", berichtet Stadtführerin Christine Deforche. Aber die älteste Klöppelfee hat die 90 längst überschritten, um die Zukunft ist es deshalb schlecht bestellt. "Zehn Jahre noch", sagt William Brack, der ein Geschäft mit Spitzenware betreibt, dann sei niemand mehr übrig, der das Handwerk überhaupt noch beherrscht: Nur noch etwa 50 Klöpplerinnen gebe es unter den 120 000 Einwohnern. "Die Jüngste ist 68 Jahre alt." Und bei einem Stundenlohn von rund einem Euro lässt sich kaum williger Nachwuchs auftreiben. Auch deshalb verkaufen viele Händler mittlerweile vor allem Ware aus China. Aber selbst im Land des lächelnden Nachmachens, schätzt William Brack, seien die Tage des Klöppelns gezählt. Beschauliche Straßen laden zum Flanieren ein



Das Spitze-Festival, mit einer großen Schau belgischer und niederländischer Modeschöpfer und Design-Studenten eröffnet, könnte also der rauschende Abgesang auf das Traditionshandwerk werden. Aber die Stadt lohnt den Besuch auch ohne Klöppelkunst. Man kann zum Beispiel durch Gässchen stromern, die diesen Namen wirklich verdienen: Manche davon sind so eng, dass knapp zwei Menschen nebeneinander passen - und die sollten einander sympathisch sein. Man kann versuchen, alle Marienfiguren zu entdecken, die von vielen Hausecken segensreich auf die Besucher herabblicken: 272 davon gebe es, erzählt Christine Deforche. Und ein eigenes Komitee zur Erhaltung der steinernen Jungfrauen. "Das sind alles Männer", sagt die Stadtführerin und lacht.

Man kann zudem (der TV berichtete) das weltweit erste Frittenmuseum besuchen und (nicht nur dort) eine Portion der Nationalstäbchen verputzen. Man kann sich, natürlich, auch hier der hemmungslosen Überzuckerung durch handgemachte Pralinen aussetzen - zum Beispiel mit dem "Brugsche Swantje", einer Leckerei in Schwanenform. Sie geht zurück auf eine Legende aus dem späten 15. Jahrhundert: Damals, berichtet Christine Deforche, riefen die Bürger zum Aufstand gegen den ungeliebten Kaiser Maximilian von Österreich. Sie sperrten den Herrscher und seinen Berater Pieter Lanckhals ein - und machten diesen schließlich einen Kopf kürzer. Maximilian rächte sich, indem er die Einwohner der Stadt dazu verdonnerte, bis in alle Ewigkeit die Schwäne - "Langhälse" - in den Grachten zu versorgen.

Vieles mehr bleibt zu entdecken in der schönen Stadt, deren komplettes Zentrum zum Unesco-Weltkulturerbe gemacht wurde. Nicht zuletzt im Winter: Vom 24. November bis 31. Dezember sind zwei große Weihnachtsmärkte aufgebaut, bis in den Januar hinein lockt außerdem das Eisskulpturen-Festival. Die Stadt bietet eine Reihe von saisonalen Besuchspaketen an.Wer sich auf dem Weg nach Westflandern (der Schnellzug Thalys fährt täglich mehrfach von Köln oder Aachen, umsteigen in Brüssel) literarisch einstimmen möchte, dem empfehlen wir Hugo Claus: Der im März verstorbene große Sohn der Stadt hat 1983 mit "Der Kummer von Belgien" das Jahrhundertbuch unseres Nachbarlands geschrieben. Bei Klett-Cotta liegt der Roman in neuer Übersetzung vor. Das 800-Seiten-Meisterwerk kostet 24,50 Euro. ISBN: 978-3-608-93600-1. Außerdem ist soeben als DVD erschienen: Der Gangsterfilm "Brügge sehen... und sterben?" von Martin McDonagh, mit Colin Farrell, Ralph Fiennes und Brendan Gleeson. Informationen bei Tourismus Flandern-Brüssel in Köln, Telefon 0221/270 9770, www.flandern.com. Alle aktuellen Angebote der Stadt unter www.winterinbrugge.be. (fpl)

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