Treffer in die Seele des Publikums

TRIER. Glanzvoller hätte der Neustart kaum sein können: Ein begeistertes Publikum feierte minutenlang die erste Premiere des neu formierten "Tanz Theaters Trier". Das Stück "Le grand Jacques" um das Leben des Sängers Jacques Brel faszinierte nicht nur durch eine großartige Ensemble-Leistung.

Es kommt selten vor, dass im Trierer Theatersaal bei jedem Szenenwechsel die Luft förmlich knistert vor gespannter Erwartung, welche Bilder und Ideen im nächsten Moment auf das Publikum warten. Es kommt auch selten vor, dass die Zuschauer, wenn am Ende nach der zehnten, zwölften Verbeugung das Saallicht angeht, einfach weiter jubeln. Und all zu häufig passiert es nicht, dass der Rezensent nur über höchst lückenhafte Aufzeichnungen verfügt, weil er es zwischendurch einfach nicht übers Herz gebracht hat, den Blick von der Bühne ab- und seinem Notizblock zuzuwenden. Die Rede ist also von einem durchaus denkwürdigen Abend. Ein noch unbekannter Choreograf setzt ein Tanzstück über einen nicht mehr allzu bekannten Sänger in Szene, nutzt dabei eine hierzulande recht ungewohnte moderne Tanztheater-Ästhetik - und räumt ab. Was ist da passiert?Ein wunderbarer Geschichtenerzähler

Zunächst einmal ist Sven Grützmacher ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Selbst wer Brel nicht kennt, kann sich einlassen auf die Bilder von einem jungen, ungestümen Mann, der die Welt für sich erobert, während seine Lebenszeit aus einer riesigen Sanduhr unablässig verrinnt. Seine Geliebten, seine Feinde, die hart erkämpften Erfolge, die Erbitterung über Spießertum, Uniformität und Bigotterie, die Glücksmomente, dann Krankheit und Verzweiflung: All das setzt Grützmacher packend in Bewegung jenseits aller Konvention um - nie platt, aber auch nicht so intellektuell-verquast, dass man ein paar Bücher gelesen und etliche Brel-CDs gehört haben müsste, um die Handlung zu verstehen. Wer sich die kleine Mühe macht, das hilfreiche Programmheft zumindest zu überfliegen, hat darüber hinaus die Chance, auch tiefere Dimensionen dieser Produktion zu erfassen. Grützmachers Kunstgriff mit dem "Traumjungen" etwa, jener Figur, die er Brel zur Seite stellt, als eine Art alter ego, aber auch als Antreiber, Anreger, Mahner, Tröster. Der Choreograf legt Wert auf die Feststellung, er wolle keine Brel-Biografie inszenieren. Und trotzdem zeichnet er ein beängstigend genaues Lebensbild des Sängers, mit all der Bedingungslosigkeit von Brels Ansprüchen an sich und andere, mit der gnadenlosen Bereitschaft, sich zu verausgaben, mit den allgegenwärtigen Zweifeln. Sehr viel näher kann man an einen Menschen eigentlich nicht herankommen. Ein Glücksfall auch die Musikauswahl, nicht nur, was die Stücke von Brel selbst angeht, bei denen jedes "Greatest Hits"-Klischee vermieden wird. Wenn Brel dabei ist, sich angesichts des Erfolges selbst zu verlieren, flüstern und brüllen die "Einstürzenden Neubauten" ihren Klassiker "Seele brennt" mit Sätzen wie "Liebe ist ein Scheiterhaufen" oder "Alle Idole müssen sterben" in den Raum - als hätten sie es eigens für Brel geschrieben. Die Ahnung von Krankheit und Tod illustrieren melancholisch-schräge Instrumentalklänge von Tom Waits oder eine düstere "Amsterdam"-Coverversion von Anne Watts. Jedes Lied ein Treffer in die Seele des Publikums, ohne dass die Choreografie jemals nur billig den Text illustrieren würde. Im Gegenteil: Manchmal interpretiert Grützmacher gerade die Brel-eigenen Chansons sehr frei, verkehrt sie gar ins Gegenteil. Aber, und das ist wichtig: Man muss nicht zwangsläufig Französisch verstehen, um sie zu empfinden. Das wird auch möglich durch die bestechend einfachen, flexiblen Bühnenbilder von ÄNN. Stimmungen zu kreieren, ohne mit einer Bilderflut die Aussagen der Tänzer zu erschlagen: Das leistet die Bühnenkonstruktion mit beweglichen Türmen, die mal wie bedrohliche Mauern, mal wie fröhliche Strandkörbe aussehen können. Symbolstarke Accessoires und aussagekräftige Kostüme erleichtern dem Zuschauer das Hineinfinden in die Geschichte(n), ohne ihn mit dem Zeigefinger zu Einsichten zu nötigen.Das Ensemble tanzt wie von Zentnerlasten befreit

Das Ensemble tanzt mit einer von Zentnerlasten befreiten, ansteckend wirkenden Fröhlichkeit. Keine Sekunde hat man das Gefühl, hier werde Einstudiertes abgerufen, die zwölfköpfige Truppe ist mitten im Stück, spielt mit, denkt mit, erfindet mit. Enorm die physische Leistung von David Scherzer in der Titelrolle, der die 75 Minuten fast komplett durchtanzt. Faszinierend, wie der erst 25-jährige Sohn der Choreografin Birgit Scherzer die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit Brels nachempfindet. Was die Prägnanz der Bewegungen, die Expressivität des Ausdrucks angeht, ist (noch) eine gewisse Distanz zu dem brillanten Mario Perricone spürbar, der dem "Traumjungen" seine überwältigende Körperlichkeit leiht. Vorzüglich charakterisiert Tina Goldin die Brel-Ehefrau Miche, überzeugend gestalten Hannah Ma, Natalie und Alexander Galitskii die weiteren Solo-Rollen, glänzend unterstützt von Natalia Burgos Marcia, Natalia Grinyuk, Corinna Siewert, Denis Burda, Reveriano Camil und René Klötzer. Weitere Vorstellungen: 4., 9., 15., 19., 25. November, 9., 30. Dezember. Karten-Info: 0651/7181818.

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