Verdrängte Genialität

TRIER. 75 Jahre Katholische Frauen Deutschlands in Trier - Das Jubiläumskonzert in der überfüllten Abteikirche St. Matthias macht zugleich froh und bedrückt, löst Bewunderung aus und zugleich Beklemmung. Fanny Hensel, geborene Mendelssohn - eine immense kompositorische Begabung.

Handeln wir alles übrige rasch ab. Der fünfteilige a-cappella-Zyklus "Hab ein einzig Leben nur" von Erna Woll (geboren 1917) ist respektabel, aber kein kompositorischer Brennpunkt. Der Diskant dieser fünfstimmigen Kompositionen war beim Jugendchor des Spee-Chors in den besten Händen - hellklingend, wach und sensibel. Der Hauptchor freilich verließ sich zu sehr auf seine Routine, war für solch vokale Kammermusik wohl auch zu groß besetzt, und das Resultat blieb achtbar, ohne zu begeistern. Aber es stand ja eine andere Komponistin im Mittelpunkt. Fanny Hensel, die Enkelin des Moses Mendelssohn, die ältere Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy, die Frau des angesehenen (und völlig unmusikalischen) Malers Wilhelm Hensel - Fanny Hensel steht beispielhaft für eine Begabung, die sich nicht entfalten durfte und sich gegen alle Widerstände, gegen den erzwungenen Unterrichtsabbruch, gegen den Druck von Vater und Bruder doch nicht unterdrücken ließ.Ihre Schwierigkeiten mit dem drei- und vierstimmigen Kontrapunkt sind offensichtlich, die große Form vermeidet sie, und dem Orchester fehlt der geschlossene, sinfonische Klang. Und doch: Wie überzeugend kompensiert sie diese aufgezwungenen Defizite! Sie ersetzt in den Fugati kompakte Vierstimmigkeit durch einen aufgelockerten, im Kern zweistimmigen Satz, setzt brillante Instrumentations-Ideen um, spannt mit einer Reihung kleiner Formen einen großen Ausdrucks-Bogen.Couragiert betritt sie Neuland

Aber Fanny Hensel war mehr als nur geschickt. Mag die "Lobgesang"-Kantate noch deutlich Bach und Händel verpflichtet bleiben - im "Oratorium nach Bildern der Bibel" wagt sich diese couragierte Musikerin auf Neuland. Sechzehn Sätze ohne tröstende Archaismen und frei von philantropischem Pathos. Stücke um Schuld und Sühne, um Abfall von Gott und Erlösung durch Gott. Die kühne Harmonik, die ambitionierten Chorsätze, die innigen Soli, sie spiegeln eine Seelenstärke, Ehrlichkeit und Echtheit, die unter den religiösen Kompositionen um 1830 wohl einzigartig sind.Martin Folz nimmt sich dieser Musik mit Elan und Einfühlungsvermögen an. Sein impulsstarkes Dirigat vermittelt den fließenden, weiblichen Duktus von Kantate und Oratorium, ohne etwas von ihrer düsteren Kraft zu verdecken. Der Spee-Chor glänzt mit kultiviertem Frauen- und markantem Männerchor, mit Präsenz und Sprach-Deutlichkeit, bleibt stellenweise zu schwerfällig. Das Luxemburger Orchester "Estro harmonico" leuchtet die originell-unvollkommene Instrumentation aus und setzt eigene Akzente, findet in der sicherlich problematischen Akustik der Matthias-Basilika nicht immer zur wünschenswerten Genauigkeit.Nicht alles in diesem Konzert gelang. Aber die Defizite verfliegen und ein Eindruck bleibt: Welch bedeutende Komponistin ging in dieser großen Frau verloren! Dieses Konzert war nicht nur Jubiläumsveranstaltung, es gibt auch Anlass zur Nachdenklichkeit - über die Frauenrolle im 19. Jahrhundert.

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