Vom schwierigen Weg des Erwachsenwerdens

TRIER. Nach den kraftvollen Chansons von Jacques Brel, der strengen Klassik von Bach und der opulenten Ballettmusik von Adolphe Adam widmet sich die neueste Produktion von Triers Tanztheater-Chef Sven Grützmacher dem Rock der 60er-Jahre. "Kozmic Blues" erzählt eine spannende Geschichte vom Erwachsenwerden.

Sehen allein reicht nicht, wenn Sven Grützmacher Tanztheater macht. Man muss schon genau hinhören. Zum Beispiel, wenn Pink Floyds "Echoes", gleich zu Beginn, die Geschichte vom Albatros erzählt. Von dem einsamen, großen Vogel, der bewegungslos in der Luft steht und den Beobachter sinnieren lässt über eine menschliche Existenz, die keinen kümmert. Keiner da, der einen an die Hand nimmt, oder in den Schlaf singt. Das Bild vom Albatros mit den großen Flügeln taucht immer wieder auf. Aber die Tänzer, die die Arme ausbreiten - sie heben nie ab. Sie bleiben am Boden, schaffen es nicht einmal über die dunkle Mauer, die die nüchterne, quadratische Spielfläche (Bühne: Gerd Hoffmann) nach hinten begrenzt.Pubertäre Albträume

Wir lernen Marty kennen, einen Jungen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ihn plagen pubertäre Albträume, irrationale Echsen-Gestalten treiben ihn vor sich her. Da rennt einer weg, vor sich, vor allem, rennt und rennt das ganze Stück hindurch (bisweilen auch, vor allem später hin, mit etwas Leer-Lauf). Er begegnet den Zeichen seiner Zeit: Den Revoluzzern im jeansblauen Einheits-Kampfanzug, die mit den Stones "Sympathy for the devil" propagieren. Oder den Flower-Power-Freaks, die als "My Generation" immerhin ein paar Löcher in die Wand brechen, um dann, gleichfalls mit "The Who", im "Magic Bus" bei falschen Gurus zu landen. Das klingt jetzt wie ein stereotypes Best-of-Sixties-Panorama, ist es aber keineswegs. So flach arbeitet Grützmacher nicht. Da gibt es musikalische Widerhaken aus Tom Waits' kratziger Kehle oder Henry Purcells barockem Wohlklang. Und es gibt eine hochspannende Gegen-Figur: Martys Vater, den traurig Gescheiterten. Kein autoritäres Feindbild, an dem man sich die Hörner abstoßen kann - eher einer, der selbst kaputt gegangen ist an seiner vergeblichen Sehnsucht, die Mauer zu überwinden. Einer, der seinen Sohn mit kläglichen Bemühungen beschützen will, der aber ziemlich rüde vom "Thron" gestoßen und in die Ecke abgeschoben wird. Und da sind da noch der unnahbare, distanzierte große Bruder, Martys erste, tragisch endende Liebe, und die weise Kassandra, die alles Unheil ahnt, aber doch nicht zu verhindern weiß. Unterm Strich bleibt Marty immer allein auf sich gestellt - wie der auf Leinwände projezierte Kampffisch, der am Ende verschwindet. Ein Symbol der Hoffnung? Grützmacher macht der Fantasie des Beobachters keine Vorschriften. "Kozmic Blues" hat viele Stärken. Da sind die originellen, schön mit Klischees spielenden Kostüme von Alexandra Bentele. Da ist eine sensible, bis ins Detail kompetente Musikauswahl, die die Handlung voran treibt und für das Aufbruch-Gefühl der Sechziger steht. Das wäre mit aktuellem Pop schlechthin unmöglich. Die "Who" grölten: "I hope I die before I get old", Robbie Williams flötet heute: "I hope I'm old before I die". Da liegen Welten dazwischen.David Scherzer schöpft aus dem Vollen

Sicher kein Zufall, dass man bei den Stones nicht die Standard-Aufnahme von "Sympathy" spielt, sondern die unglaublich frisch wirkende Live-Version vom 68er "Rock'n Roll Circus". Kein Zufall auch die rare Neil-Young-Filmmusik-Ausgrabung und das Finale mit Janis Joplins "Kozmic Blues" und "The End" von den Doors - das freilich irre Anforderungen an die Physis des Solo-Tänzers stellt. David Scherzers "Marty" schöpft, was das angeht, aus dem Vollen. Er arbeitet seine Rolle,die Athletik ist im Zuschauerraum bis in die letzte Reihe körperlich spürbar. Reizvoll kontrastieren dazu die zurückhaltende Eleganz von Stojan Kissiov als Bruder und die eindrucksvoll verkörperte Tragik von Hannah Ma als Kassandra. Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt der junge René Klötzer als differenzierter, facettenreicher, ausdrucksstarker und anrührender Vater. Natalia Burgos Macia und Denis Burda glänzen in größeren Nebenrollen, wie überhaupt das gesamte Ensemble (Natalia Galitskii, Natalia Grinyuk, Corinna Siewert, Reveriano Camil, Alexander Galitskii) rundum überzeugt. Grützmacher wirft seinem Publikum keine leicht verdaulichen Appetithäppchen vor. Umso erfreulicher, dass die Trierer Zuschauer mitziehen. Es gab rauschenden Premierenbeifall.

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