Von klingender Symbolkraft

TRIER. Ein unbekanntes Oratorium statt klingender Repräsentation zum Abschluss: Die Intendanz der Mosel-Festwochen bewies Mut. Künstlerisch wurde der mit Elgars "Dream of Gerontius" reich belohnt.

Eine Entdeckung! Ein Ereignis! Ganz sicher ein nachhaltiges Erlebnis für hunderte Besucher, die zum Abschlusskonzert der Moselfestwochen in die Konstantin-Basilika gekommen waren. Ein als eher zweitrangig geltender Komponist aus einem Land an der musikhistorischen Peripherie vertont einen scheinbar simplen Text - und das Ergebnis ist ein kirchliches Musikdrama auf den höchsten Höhen der Chorsinfonik. Edward Elgars "The Dream of Gerontius" hat den Einzug ins Repertoire verdient. Dabei löst das dramatische Gedicht des zum Katholizismus konvertierten Anglikaners John Henry Newman bei der Lektüre nicht nur Zustimmung aus. Ist diese naiv bilderreiche Vorstellung von Sterben und Weiterleben noch so zeitgemäß, dass ihre Vertonung heute beeindrucken, mitreißen kann? Edward Elgar hat mehr getan, als am Text entlang zu komponieren. Er hat ihn durch Musik neu interpretiert, seiner Sprache klingende Symbolkraft abgewonnen, hat die Bilder zu Emotionen verdichtet und damit der Grenzsituation zwischen Diesseits und Jenseits im Text eine Ausdrucks- und Inhaltskraft verliehen, die auch heute unmittelbar berühren. Zwischen abgeblendeter Buße und leidenschaftlichem Flehen, zwischen diesseitiger Angst und jenseitiger Hoffnung, zwischen Abschiedsschmerz und der Ahnung von Verklärtsein baut der Komponist einen visionären Bogen, gibt der Musik einen wunderbaren sinfonischen Atem ohne Spannungsverluste. Dieses Oratorium ist anschaulich, aber nicht plakativ, eindringlich, aber weder lehrhaft, noch gar propagandistisch. Und wie in einer Sternstunde ergänzten sich in dieser Aufführung alle Dimensionen: Werk, Interpretation, dazu die Stimmung in der riesigen Konstantin-Basilika. Unter der souveränen Stabführung von Martin Bambauer musizieren Orchester, Solisten und Chöre dieses Werk in seiner ganzen Breite und Tiefe aus - bei allen Unterschieden im Einzelnen. Nach den Erfahrungen in dieser Trierer Erstaufführung ließen sich für die Klangdramaturgie der Komposition mit ihren Wechsel zwischen Halb- und Hauptchor sicher noch andere Lösungen finden als die gemeinsame Aufstellung. Verständlich auch, dass der Trierer Bachchor und der Karlsruher Kammerchor (Einstudierung: Carsten Wiebusch) bei diesem nicht ganz einfachen Werk nicht so frei und routiniert musizieren wie in Repertoirestücken. Dennoch, die Schwierigkeiten dieser Partitur bewältigen sie: Der Gesang der Dämonen mit seinem Nietzsche-nahen Nihilismus erhält sogar einen zynischen Unterton. Und der große C-Dur-Jubelchor im zweiten Teil, in dem sich der Hauptchor bis zur Achtstimmigkeit auffächert, besitzt beides, Glanz und eine erstaunliche Beweglichkeit. Die Rheinische Philharmonie Koblenz, allen voran die exzellent eingespielte Bratschengruppe und das markant-kultivierte Blech, begnügt sich nicht mit der Rolle des passiv mitmusizierenden Oratorienorchesters. Die Musiker zeigen Profil, geben Impulse, malen das schattierungsreiche, helldunkle Farbspiel dieser Partitur sinnfällig aus. Martin Bambauer führt diesen Apparat sicher durch die zahlreichen Beschleunigungen, Ritardandi, Ruhepunkte und Aufgipfelungen: bei aller Klangstärke ein flexibles, atmendes Musizieren. Diese Organik meidet alles Starre, Plakative und entfaltet statt dessen Wärme und Gefühlsstärke. Unter den Solopartien hat Elgar dem Sopran fast stets die tiefe Lage vorgegeben (und damit das akustische Engel-Klischee vermieden). Claudia Römers Mezzo müht sich mit dieser undankbaren Rolle, meidet Forcierungen, nimmt alle Komponisten-Vorschläge zu höheren Alternativtönen dankbar auf, entwickelt freilich erst gegen Ende des Werks eine überspringende Musikalität. Martin Blasius verleiht Priester und Todesengel eine geradezu apokalyptische Intensität. Und dann der überragende Stefan Vinke. Sein Gerontius klingt im ersten Teil in heftigem, verzweiflungsnahen Forte, sogar mit einem Schuss Italianità. Wenn die Seele sich ihrem Schöpfer nähert (ohne ihn zu erreichen), berückt er mit betörend weichem Einsatz, sachtem Legato, kultiviertem Piano, beschwört das Aufgehobensein in Gottes Hand.

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