Was Menschen brauchen - und was nicht

Zu den spannendsten und faszinierendsten Projekten der Kulturhauptstadt 2007 gehört die Ausstellung "All we need" in der ehemaligen Gebläsehalle der Stahlfabrik Esch-Belval. In zehn Stationen erklären Künstler, wie die Welt funktioniert - oder genauer gesagt: wie sie nicht funktioniert.

Esch/Alzette. Der erste Moment ist blankes Erstaunen. Die Dimensionen der stillgelegten Stahlkocherei sind gigantisch. Und anders als etwa in Völklingen herrscht hier nicht der edelrenovierte Charme des Weltkulturerbes: "Les Soufflantes", wie die Halle heißt, ist roh, staubig - so als wären die Stahlarbeiter über Nacht verschwunden und hätten nicht einmal Zeit gehabt, die Pin-up-Fotos aus ihren Spinden zu entfernen.Klingt kompliziert, ist aber einfach

Die Idee von "All we need" klingt kompliziert, ist aber denkbar einfach. Der Wissenschaftler und alternative Nobelpreisträger Manfred Max-Neef hat schon vor Jahren eine Liste von menschlichen Grundbedürfnissen entwickelt, auf deren Befriedigung Menschen - unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben - Anspruch haben. Das Recht auf Überleben und Schutz, die Chance zur Freiheit, zur Liebe, die Möglichkeit, sich zugehörig zu fühlen, seine Kreativität einzusetzen, der Anspruch auf Beteiligung, aber auch auf Muße: Sie stehen jedem zu, sind jedoch auf der Welt höchst unterschiedlich verteilt. Genau das arbeitet die Ausstellung in origineller, fantasievoller Weise heraus, ohne ein Übermaß an Zeigefinger.Wogendes Meer aus 50 000 Plastikflaschen

 Abwärts-Spirale zurück zum Start. Foto: Lux2007/Luc Deflorenne

Abwärts-Spirale zurück zum Start. Foto: Lux2007/Luc Deflorenne

 Spektakuläres Ambiente im alten Industriegebiet Esch-Belval. Foto: Lux2007/Marc Laroche

Spektakuläres Ambiente im alten Industriegebiet Esch-Belval. Foto: Lux2007/Marc Laroche

Zum Beispiel das Thema "Muße". Da kreist unablässig ein Ferienflieger am Hallen-Himmel, ein Sandstrand lädt zum Entspannen ein. Aber das wogende Meer davor ist aus 50 000 leeren Plastikflaschen geformt. Und gleich nebenan hängt eine ungemein witzige Foto-Ausstellung, die Postkarten-Idyllen von einst mit der vermarkteten Alpenwelt von heute vergleicht.Dann bleibt einem aber das Lachen im Hals stecken. Eine kirchturmhohe, hölzerne Weltraum-Rakete, die Arche Noah des 21. Jahrhunderts, abhebe-bereit, wenn es auf der Erde kracht. Aber wer darf mit? Und was darf mit? Imaginäre Einkaufslisten illustrieren das Thema "Überleben" und zwingen einem den Gedanken auf, was man im Fall der Fälle selbst täte.Nachdenken ist erwünscht in Belval. Zum Beispiel über die 150 verschiedenen Shampoo-Sorten, unter denen wir wählen dürfen - während viele Menschen bei wichtigeren Dingen überhaupt keine Wahl haben. Immer wieder überraschende Bilder: Da kontrastieren Video-Künstler den Sommerschlussverkaufs-Rummel bei H&M mit den chinesischen Arbeitern, die in die Fabrik strömen, wo die Klamotten hergestellt werden. Und dann steht da mitten in der Ausstellung eine gigantische, meterhohe Wand aus verschrotteten Computer-Mäusen. Während man noch über die originelle Installation grinst, fällt der Blick auf den kleinen Bildschirm mit dem Film über indische Tagelöhner, die solchen Elektronik-Schrott mit bloßen Händen in dampfende Säurebäder tauchen, um mit dem Kupfer ein paar Rupien verdienen zu können.Auf dieser Welt hängen alle Dinge miteinander zusammen, das ist die Botschaft von "All we need". Besonders eindrucksvoll vermittelt sie sich bei einer Performance, die Zahlenverhältnisse anhand von Reiskörnern demonstriert. Ein Saal voll mit kleinen und großen Reis-Hügeln. Sechs Millionen Holocaust-Tote, jedes Korn ein Mensch. Der McDonalds-Umsatz als Reiskorn-Berg - noch größer ist jener, der alle Menschen symbolisiert, denen weniger als ein Dollar pro Tag fürs Überleben zur Verfügung steht. Aber es gibt auch spaßige Vergleiche, wie überhaupt die Ausstellung viele familien- und kindergeeignete Elemente bietet. So arbeitet man sich Station für Station bis unters Dach der Gebläsehalle. Und entdeckt von oben einen riesigen Autofriedhof. Lauter verstaubte Karossen, von edel bis billig. Das größte Kunstwerk in Belval ist gar keines: Die Luxemburger Polizei hat hier ihren Park für abgeschleppte und nicht mehr abgeholte Autos. Verrottender Luxus. Brauchen wir das?Die Frage kann jeder für sich beantworten, am Ende, wenn es wieder steil nach unten geht, zur persönlichen Bilanz am PC. Wie oft müsste es unsere Erde geben, wenn jeder so viel Ressourcen verbrauchen würde wie ich? Das Ergebnis lässt einen grübelnd nach Hause gehen.Geöffnet Di bis So, 11 bis 19 Uhr (Do bis 21 Uhr). Nur 15 Autominuten von der Stadt Luxemburg entfernt. Man sollte zwei bis drei Stunden einplanen und die Gratis-Audioguides nutzen. Ideal auch für Gruppen. Infos: www.allweneed.lu

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