Wie ein Schlag in die Magengrube

TRIER. Spannend, aktuell, bedrückend: So zeigt das Theater Trier Max Frischs Schauspiel "Andorra" in einer Neu-Inszenierung von Horst Ruprecht.

 Der vermeintliche Jude Andri (Enrico Spohn, mit Kopfhaube) wird von den Besatzern hingerichtet, seine Mitbürger helfen ihm nicht. Foto: Friedemann Vetter

Der vermeintliche Jude Andri (Enrico Spohn, mit Kopfhaube) wird von den Besatzern hingerichtet, seine Mitbürger helfen ihm nicht. Foto: Friedemann Vetter

Manchmal entscheidet sich ein Theater-Stück buchstäblich in letzter Minute. Was immer an Zweifeln, Einwänden aufgekommen ist, wird von einem grandiosen Finale hinweggefegt, das alle offenen Fragen beantwortet oder zur Nebensächlichkeit werden lässt. Bei Horst Ruprechts Andorra hat man das Gefühl, dass die ganze Inszenierung vom Schluss her gedacht ist. Wer Max Frischs Stück kennt, wird sich daran erinnern, dass es ständig dadurch unterbrochen wird, dass sich die Andorraner ans Publikum wenden und ihre Haltung - oder besser Nicht-Haltung - zur Tötung des Jungen Andri rechtfertigen und sich dabei von Schuld freisprechen. Das alles setzt Ruprecht gebündelt an den Schluss. Und plötzlich entsteht aus dem belehrenden Bildungstheater eine ungemein packende Szene, die unwillkürlich an die Nürnberger Prozesse erinnert. Einer nach dem anderen steht auf und will es nicht gewesen sein. Nichts gesehen, nichts verstanden, nur Befehlen gehorcht, und im übrigen sind die Opfer im Grunde genommen selber schuld: Das ganze, elende Repertoire, gipfelnd in der finalen Forderung: "Einmal muss man doch auch vergessen können". Ein Satz wie ein Schlag in die Magengrube. Da hat keiner etwas gelernt aus seiner Feigheit und seinen Vorurteilen, außer dem Pfarrer vielleicht, aber der war ja im entscheidenden Moment nicht da. Die wollen ihre Ruhe haben, die Andorraner, sich nicht stören lassen von ihren Toten. Und auch nicht von Andris Schwester Barblin, die ob des Unrechts und der Gewalt den Verstand verloren hat und, auf der Bühne kauernd, die "Bekenntnisse" hört, ohne sie zu verstehen. Das ist das beklemmende Ende einer von der ersten Sekunde an beklemmenden Geschichte. Regisseur Ruprecht, der beim "Besuch der alten Dame" so meisterhaft mit der Komik des Grauens spielte, lässt diesmal keinen Raum zum Ausweichen in die Groteske. Andorra, das fiktive Land, ist beherrscht von rüdem Militär, dessen Aggressivität sich mit der bequemen Feigheit und dem Neid seiner Bewohner zu einer unheilsamen Mixtur verbindet. Dazu kommt der Druck durch eine drohende Invasion von außen, der durch laufende Fernseh-Einblendungen mit einem bedrückenden Gefühl von Aktualität vermittelt wird. Konnte man sich in der "Alten Dame" noch über die Verlogenheit und die Bigotterie der Leute lustig machen, so springt sie einen hier zutiefst unbehaglich an. Nichts ist da heimelig, selbst die musikalische Unterlegung mit verschiedenen Varianten von "La Paloma" kratzt im Gehörgang. Die stärkste Figur ist, ausgerechnet, das Opfer. Enrico Spohn spielt Andri, den Juden, der dann doch keiner ist, sich aber nicht mehr von anderen definieren lassen will. Kein Opferlamm, kein Sympathieträger, der die Schutzinstinkte des Publikums weckt. So billig macht es diese Inszenierung nicht. Ein Junge, der Ansprüche ans Leben hat, der aufbegehrt gegen die absurden Vorurteile, die - ob negativ oder positiv - ständig seine Existenz bedrohen. Und dessen letztliches Akzeptieren der aufgezwungenen Identität keine Kapitulation ist, sondern die wohl einzig mögliche Form des Widerstands. Das wird überzeugend gespielt, wie überhaupt das Schauspiel-Ensemble begeistert. Peter Singer als von Anfang an verlorener Vater, der mit der Lüge, Andri sei ein jüdisches Findelkind, nicht leben kann, Vanessa Daun als verzweifelte Halbschwester: Sie berühren das Publikum, ebenso wie Jan Brunhoebers brutaler Soldat oder die Charakterstudien von Verena Rhyn, Barbara Ullmann, Klaus-Michael Nix, Hans-Peter Leu, Manfred-Paul Hänig, Michael Ophelders, Tim Olrik Stöneberg, Ernst Saxen, Hans Dieter Bouillon und Thomas Grünholz. Mit kräftigen Strichen konturieren das Bühnenbild von Manfred Breitenfellner und die Kostüme von Carola Vollath das Konzept der Regie. Am Ende langer Beifall vom sichtlich beeindruckten Publikum.

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