Wiedergelesen - Lieblingsbücher

Du lieber Himmel, wie furchtbar. Was für ein armer Kerl.

Die zentrale Emotion, die J. D. Salingers Klassiker "Der Fänger im Roggen" (Original: The Catcher in the Rye, 1951) vermittelt, ist pures Mitleid. Salingers Protagonist Holden ist kein böser Mensch, im Gegenteil. Doch er scheint dazu verdammt, an allen gesellschaftlichen Hürden zu scheitern und im Streben um Respekt, Zuneigung und persönlichen Erfolg immer nur Schiffbruch erleiden zu müssen. Wohin er sich auch wendet, holt er sich eine blutige Nase. Holden kommt aus einer reichen Familie im New York des Jahres 1949. Er ist 16. Es mangelt ihm weder an Intelligenz noch an emotionaler Tiefe. Doch Salinger schickt den Jugendlichen in seinem nur 48 Stunden umfassenden Roman durch eine Tour de Force an Fehlschlägen, Misserfolgen, Niederlagen und Zurückweisungen. Ein komprimierter Alptraum der Jugend, basierend auf Hilflosigkeit, Trotz und Verzweiflung. Salingers Roman ist sprachlich und stilistisch ein Meisterwerk. Lange vor dem ersten Punkt rebelliert der Protagonist gegen die Gesellschaft, die seine Eltern und Lehrer ihm vorleben und deren Regeln er als verlogen und oberflächlich ablehnt. Schnoddrig rotzt er seine Ratlosigkeit heraus, denn er hat keine Vorstellung, wie er sich dieser Gesellschaft anpassen soll, wie er Teil von ihr werden und was er aus seinem Leben machen soll. Diese Schattenseite der Wandlung, die gerne als "Erwachsenwerden" verklärt wird, ist heute noch so aktuell wie vor 50 Jahren. Das einzige Licht in Holdens Leben ist seine kleine Schwester Phoebe, und sie gibt - so kann man Salinger verstehen - ihm dann auch den Willen, nicht kopflos zu fliehen, sondern es mit der Welt aufzunehmen, Trotz und Verzweiflung zu überwinden. Diese Wandlung des 16-jährigen Ich-Erzählers ist ein emotional ungeheuer intensives Leseerlebnis, das immer noch funktioniert. Offenbar ist das "Erwachsenwerden" über Jahrzehnte hinweg nicht leichter geworden. Übrigens: Nur die Neuübersetzung von Eike Schönfeld (2004) überträgt die Intensität des Buchs vom englischen Original in die deutsche Sprache. Jörg Pistorius J. D. Salinger: The Catcher in the Rye, deutsch: Der Fänger im Roggen. New York, 1951. Deutsche Neuübersetzung: Verlag rororo, ISBN-10: 3499235390, 272 Seiten.

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