Wiedergelesen - Lieblingsbücher

Ein 15-Jähriger beginnt eine Affäre mit einer älteren Frau. Damit beginnt "Der Vorleser", Bernhard Schlinks Welterfolg von 1995. Äußerlich kommt der Roman recht überschaubar daher, ein Taschenbuch mit rund 200 Seiten, handlich, eine kurzweilige Lektüre.

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Foto: (g_kultur

Weit gefehlt. Diese Geschichte trifft den Leser mit einer überraschenden Wucht. Schon die Beziehung zwischen dem Jugendlichen Michael Berg und der 36-jährigen Hanna Schmitz hat es in sich. In Rückblenden berichtet der inzwischen Erwachsene als Ich-Erzähler, wie er Ende der 1950er Jahre zufällig auf die Straßenbahnschaffnerin trifft und mit ihr seinen ersten Sex erlebt. Wie er ihr danach aus Werken der Weltliteratur vorliest, weil sie es verlangt. Wie er ihr verfällt, obwohl sie kaum Persönliches preisgibt und ihn erniedrigt.

Und wie sie eines Tages spurlos verschwindet. Erst Jahre später sieht Michael sie wieder. An diesem Punkt entwickelt sich der Roman zu etwas Größerem, aus der bizarren Liebesgeschichte wird ein Stück Zeitgeschichte. Als Jurastudent verfolgt Michael einen NS-Prozess, in dem Hanna als ehemalige KZ-Aufseherin angeklagt ist. Ein lange gehütetes Geheimnis könnte sie entlasten. Doch weil sie sich dafür mehr schämt als für ihre Verbrechen, schweigt sie und wird verurteilt. Auch Michael, der ihr Geheimnis erkannt hat, schweigt. Während Hannas Haft schickt er ihr Kassetten mit von ihm vorgelesenen Geschichten.

Aber er bleibt auf Distanz - bis zum tragischen Schluss. Scham, Verantwortung, Schuld - das sind die zentralen Motive dieses Romans. Sie begegnen dem Leser auf vielfältige Weise, wobei die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit durch Michael mit der Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen verwoben wird. Diese ungewohnte Perspektive auf die deutsche Vergangenheitsbewältigung macht das Buch zu etwas Besonderem. Dazu passt Schlinks schlichter, präziser Erzählstil, der doch auch einfühlsam ist. Der Leser leidet mit, wenn Michael seine inneren Konflikte vor ihm ausbreitet. Hat er sich schuldig gemacht, weil er eine Verbrecherin geliebt hat? Ist sie schuldig? Und wem gegenüber muss Hanna Rechenschaft ablegen?

Muss er ihr Geheimnis lüften, auch wenn sie es nicht tut? Und der Leser grübelt mit, wenn Michael von der kollektiven Schuldzuweisung an die Eltern spricht. Wenn er ihnen vorwirft, durch fehlende Aufarbeitung ihre Schuld vererbt zu haben. "Der Vorleser" ist kein einfaches Buch, er vereinfacht auch nicht, wie Kritiker es Schlink vorwerfen. Ihrer Meinung nach macht der Roman eine schuldige NS-Täterin zum Opfer. Die Frage nach Hannas Schuldfähigkeit wird gestellt, ja. Aber sie wird nicht beantwortet. Es ist eine von vielen Fragen, auf die es keine befriedigende Antwort gibt. Gerade darin liegt der Reiz des Romans, einer Geschichte über die Nachkriegsgeneration, ihre Hilflosigkeit und die Macht von Schuld und Scham. Um in diese Untiefen vorzudringen, braucht man Zeit. Oberflächliches lesen reicht da nicht. Und auch ein zweites Mal lesen lohnt sich! Christa Weber Bernard Schlink, "Der Vorleser", Diogenes, 1997, 208 S. 9,90 Euro.

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