Zeitzeugen zur Stunde Null

PRÜM. Walter Kempowski hat den richtigen Zeitpunkt gewählt. 60 Jahre nach dem Selbstmord eines Wahnsinnigen zieht er mit seinem "Echolot – Abgesang ’45" den Schlussstrich unter ein Werk, an dem er mehr als zehn Jahre arbeitete und für das er in den Feuilletons nun frenetisch gefeiert wird.

1993 erschien der erste Teil des Echolots - einer gewaltigen Collage aus Briefen, Tagebüchern, Bildern und Aufzeichnungen, die eine minutiöse Rekonstruktion von Alltagsgeschehen und historischen Ereignissen darstellt. Während die ersten vier Bände den Zeitraum von Januar und Februar 1943 umfassten, führte Kempowski das kollektive Tagebuch bis 1945 weiter. Mit dem nun im Albrecht-Knaus-Verlag erschienenen Band "Echolot - Abgesang '45” komplettiert der Autor das auf insgesamt zehn Bände angewachsene Mammut-Werk. Denkmal für Jahrhundertwerk

Nicht nur die Medien führen seit Jahresbeginn die Gräueltaten Hitler-Deutschlands vor Augen und brennen die Bilder von Tod, Unwürde und Skrupellosigkeit nachhaltig ins Hirn. In der Eifel hat sich der 2000 Mitglieder starke Geschichtsverein Prümer Land den finalen Erinnerungen an der Stunde Null angenommen. Mit Walter Kempowski präsentierten die Heimathistoriker am Dienstagabend einen Zeitzeugen, der sich mit seinen kollektiven Tagebüchern über die Grenzen Deutschlands hinaus ein Denkmal gesetzt hat. Kempowski, 1929 in Rostock geboren, wurde 1948 von einem sowjetischen Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen verbüßte. Nach seiner Entlassung zog er in den Westen und arbeitete jahrelang als Dorfschullehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Mit seiner mehrbändigen Deutschen Chronik, zu der Romane wie "Tadellöser & Wolff" (1971), "Aus großer Zeit" (1978) und "Herzlich Willkommen" (1984) gehören, avancierte Kempowski zum Bestsellerautor und großen Chronisten des deutschen Bürgertums. Während im mit mehr als 200 Gästen voll besetzten Prümer Ratssaal Geschichtsvereinschef Volker Blindert die "minutiösen wie ergreifenden" Schilderungen in Kempowskis Echolot würdigte, bescheinigte der Initiator des Eifel-Literatur-Festivals, Josef Zierden, dem Bremer Schriftsteller das Schaffen eines "Jahrhundert-Projekts". Walter Kempowski, der im August den Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck erhält, gab sich am Dienstag betont konzentriert. Ob Rotarmisten, ehemalige KZ-Häftlinge oder Arbeitsdienstleute: Der Sohn eines Rostocker Schiffsreeders ließ im Verlauf der knapp einstündigen Lesung seine Zeitzeugen - teils mahnend, teils resümierend - zu Wort kommen. Immer wieder mit der rechten Hand die Stirn betastend, sich räuspernd und am Wasserglas nippend, brachte den Autor gleichwohl das Husten einer Frau aus dem Takt: "Sie glauben ja gar nicht, wie mich das stört!" Wie gut, dass der Meister das zwischenzeitliche Klingeln eines Handys überhörte. Das kollektive Räuspern hob sich das Prümer Auditorium jedenfalls bis zum Schluss auf. Und trotzdem: Mit lang anhaltendem Applaus würdigten die Zuhörer Leseleistung und Lebenswerk Kempowskis, dessen Schriftsteller-Kollege Günter Kunert jüngst die wohl passendsten Worte für die Lebensleistung des Bremers fand: "Es wäre vielleicht um unser historisches Gedächtnis besser bestellt, hätten wir mehr als den einen Kempowski."

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