Zu Stein geworden

PRÜM. Es ist die schlimmste Katastrophe, die man sich vorstellen kann: der Tod eines Kindes. Der niederländische Autor P. F. Thomése hat darüber ein Buch geschrieben und seine Trauer in einen ergreifenden Text verwandelt.

Von allen unseren Ängsten ist dies die größte: das eigene Kind beerdigen zu müssen. Und doch passiert es jeden Tag, manchmal erfahren wir davon in Gesprächen, manchmal lesen wir darüber in den Todesanzeigen, aber dann blättern wir schnell weiter, weil wir lieber nichts davon wissen, das Unglück nicht an uns heran lassen wollen. Manchmal aber passiert es eben nicht bei den "Anderen", sondern bei uns. Und dann stellen wir fest: Wir werden nicht damit fertig. In einem langen und außerordentlich schmerzhaften Prozess lernt man bestenfalls, das Unglück hinzunehmen und mit den spärlichen, niemals ausreichenden Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, das zu tun, was eine teilnahmslose Welt auf unbarmherzige Weise von einem verlangt: Weiterzumachen mit dem Leben, obwohl man eigentlich gar nicht will, dass das Leben weiter geht. Dieses Weitermachen kann auch im Schreiben bestehen - denn das ist das Mittel, das einem Autor zur Verfügung steht. In diesem Fall dem niederländischen Schriftsteller P. F. Thomése. Das Ergebnis: "Schattenkind." Thoméses Schattenkind, das ist die kleine Tochter Elisa, von ihren Eltern Isa genannt. Isa wird krank, kommt ins Hospital, und dann stirbt sie, als die Ärzte ihr nicht mehr helfen können und deshalb die Apparate, an denen ihr Leben hängt, abgestellt worden sind. Auf gut 100 Seiten, in knapp 50 Kapiteln, manche nur ein paar Sätze lang, berichtet Thomése darüber, wie dieses Unglück über eine Familie hereinbricht. Darüber, wie auf einmal alles anders ist, wenn das geliebte Kind nicht mehr lebt. Und wie der Tod der kleinen Isa auch das bisherige Leben ihrer Eltern zum Stillstand bringt: "Ein Stein war ich geworden, ich konnte nur noch brechen." Will man so etwas lesen, kann man das überhaupt ertragen? Man kann, es geht ganz leicht, und genau das ist das große Verdienst dieses Autors: Die Ereignisse, von denen Thomése berichtet, sind eine Zumutung - der Text ist es nicht. Thomése hat der Katastrophe ein Buch abgetrotzt, das unter Verzicht auf Sentimentalität vom Erleben des Allerschlimmsten erzählt, vom Schmerz der Eltern, von der Verzweiflung, die aus Liebe entsteht - dann nämlich, wenn sie auf einmal nicht mehr weiß, wo sie vor Anker gehen soll: "Die Verliebtheit sucht eine Verkörperung, die sie jetzt nicht mehr finden kann... Die Welt besteht auf einmal aus Orten", schreibt er an sein totes Kind gewandt, "an denen du nicht mehr bist, die Zeit aus Augenblicken ohne dich." Und er erzählt vom manchmal fast ebenso unerträglichen Unverständnis der Außenstehenden, in deren Köpfen "sie geleugnet und still und heimlich totgemacht wird". Man liest diese Sätze und denkt: Genau so ist es.Fremd sein im eigenen Leben

Ein schmales Buch, Thomése macht nicht viele Worte, weil man der Katastrophe mit Worten nicht beikommen kann. Aber die wenigen, die er findet, treffen ins Herz, ohne dass dabei Kitsch entsteht (und selbst wenn - könnte man es dem Autor verdenken?): Er erzählt vom "Sonnenlicht, das ins Zimmer fällt und sie nirgends findet", dem Licht, das matt und grau geworden ist, in einer plötzlich fremden Wohnung, aus der die Eltern irgendwann die Kindersachen wieder entfernt haben. "Und auch wir selbst sind Fremde im eigenen Leben". Gut, dass es neben all den Coelhos und Schmitts auch noch solche Literatur gibt - obwohl man sich angesichts der Umstände, unter denen dieses Buch entstehen musste, kaum traut, das zu sagen. "Schattenkind" sind viele Leser zu wünschen, und zwar nicht nur auf Seiten derer, die ähnliches durchgemacht haben. Sie aber werden sich in vielen Passagen dieses kleinen, großen Buchs wieder erkennen. P. F. Thomése: Schattenkind. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Berlin Verlag, 110 Seiten, 14,90 Euro.

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