Frei sein und trotzdem überleben

Trier · Es ist das 20. Stück, das Sven Grützmacher seit 2005 in Trier auf die Bühne bringt: "Bluthochzeit", angelehnt an das Drama von Federico Garcia Lorca, kommt nach der erfolgreichen Produktion 2007 in Innsbruck mit großen Vorschusslorbeeren an die Mosel. Am Samstag ist Premiere.

 Konzentrierte Ensemble-Arbeit: Das Tanz-Theater Trier bei den Proben für „Bluthochzeit“. TV-Foto: Friedemann Vetter

Konzentrierte Ensemble-Arbeit: Das Tanz-Theater Trier bei den Proben für „Bluthochzeit“. TV-Foto: Friedemann Vetter

Trier. Blütenweiß ist die Bühne. Die verstreuten roten Rosen vorne am Rand sehen aus wie Blutflecken. Viel freie Fläche, wenige Utensilien. Sven Grützmacher lässt die Menschen erzählen, nicht die Gegenstände.
Relativ gelassen sitzt der 47-Jährige am Regiepult und beobachtet die erste große Bühnenprobe, die schon ein erstaunlich rundes Bild bietet. Anschaulich entrollt sich die Geschichte eines Beziehungsdramas am Rande einer Heirat in Andalusien: Die Braut will sich der Pflicht-Ehe mit dem reichen Bräutigam entziehen, lässt sich am Hochzeitstag mit dem verführerischen Außenseiter Leonardo ein - aber der Flucht-Versuch endet blutig.
Gesellschaftliche Zwänge, der Wunsch, ihnen zu entkommen, sich nicht anzupassen, frei zu bleiben und trotzdem zu überleben: Das ist der Stoff, aus dem Grützmachers Stücke sind. Egal, ob er klassische Werke wie "Giselle" oder "Schwanensee" choreographiert, ob er große Menschenporträts wie "Brel" oder "Chagall" liefert, ob er mit "Narrenschiff" und "Winterreise" die Sinnfrage stellt oder sich mit "Kozmic Blues" und "Dance around the world" einfach auf den Weg zu neuen Ufern macht.
Dass ihm Garcia Lorca gefällt, dieser von den spanischen Faschisten 1936 ermordete radikale Gesellschaftskritiker, liegt auf der Hand. "Seine Sprache fasziniert mich", sagt er und schwärmt von der "Bildhaftigkeit" und dem "Reichtum" in Lorcas Texten. Letzteres in seiner Choreographie einzufangen ist ihm wichtiger, als die Geschichte eins zu eins nachzuerzählen.
Seine Tanzkompagnie zieht dabei mit, hochkonzentriert und einsatzfreudig schon in den Proben. Zwei Minuten reichen, um im Bewegungs-Repertoire den typischen Grützmacher-Stil zu erkennen: Menschen, die sich durchkämpfen, die strampeln müssen für ein bisschen Glück, die stürzen und sich wieder aufrappeln, deren Bewegungen bewusst ungelenk sind und anstrengend, denen oft die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens über die Schulter schaut.
Glatte Eleganz und spielerische Leichtigkeit sind Grützmachers Sache nicht, auch wenn ihm oft Bilder von außerordentlicher Schönheit gelingen - besonders, wenn er - wie diesmal - auch das Bühnenbild konzipiert hat. Die Musik meidet, wie fast immer, Klischees, klingt eher osteuropäisch als spanisch. Statt Flamenco ertönen Bands wie Kroke oder 17 Hippies. Folklore, das wäre so ungefähr das letzte, was der Choreograph für dieses "Hammerstück" gebrauchen könnte.
Grützmacher liefert keine Gefälligkeiten, aber auch keine Provokationen. Um so erstaunlicher, dass er sein Publikum gefunden hat - trotz eines radikalen Ästhetik-Wechsels gleich zu Beginn seiner Zeit als Tanz-Chef. Nirgendwo ist das Trierer Theater so jung wie in seiner Tanz-Sparte, nirgendwo so konstant.Wie geht es ab 2015 weiter?


Gut die Hälfte aller Tanz-Produktionen hat Grützmacher selbst choreographiert, das Dutzend ist voll. Dazu kommen vier Opern, zwei höchst erfolgreiche Musicals und ein soziokulturelles Projekt in der Tufa. Die "Bluthochzeit" ist sein zwanzigstes Stück in neun Jahren. In der kommenden Spielzeit inszeniert er Tschaikowskys Melancholie-Oper "Eugen Onegin" und widmet schließlich dem großen Charlie Chaplin eine Uraufführung.
Und dann? Die Frage ist offen. Es wäre weder ungewöhnlich noch anstößig, wenn ein neuer Intendant seinen eigenen Spartenchef für den Tanz mitbringt. Andererseits: Karl Sibelius, der künftige Chef des Hauses, wird Wege suchen müssen, wie man in Trier neues Publikum erschließt. Und da gibt es keinen, der bessere Erfahrungen aufweisen kann als Sven Grützmacher.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort