Mysterien-Schloss in der Gebläsehalle

TRIER. "Faszinierendes Musiktheater an einem der spannendsten Orte der Welt" verspricht der Prospekt der Völklinger Hütte zu Irmin Schmidts Fantasy-Oper "Gormenghast". Die Werbung ist nicht übertrieben.

Der erste Blick in die alte Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte erzeugt eine geradezu magische Anziehungskraft. Die gigantischen Gebläsemaschinen, die bis in die 80er Jahre den Wind für die Hochöfen lieferten, liegen wie schlafende Riesen in dem düsteren Industrie-Ambiente. Die einfamilienhaushohen Antriebswellen wirken wie monumentale Steuerräder eines imaginären Mammut-Schiffs. Wer immer die Idee hatte, die Fantasy-Oper über das mysteriöse Mythen-Schloss Gormenghast an diesem Ort aufzuführen: Er hat einen Volltreffer gelandet. Regisseur Andreas Baesler und Bühnenbildner Karel Spanhak reichen für das Schloss unter den rostigen Deckenträgern mehrere große, weiße Projektionsflächen und einige wenige Requisiten. Dafür durfte Ulli Kremer in ihrer Trierer Werkstatt um so üppigere und fantasievollere Kostüme entwerfen. Von Surrealem bis zu Harry Potter reicht das Spektrum. Die Video-Projektionen von Jürgen Schnetzer verzichten weitgehend auf Gegenständliches, erzeugen mit abstrakten Bildern in ihren besten Momenten die Atmosphäre von Cocteau-Filmen. Aber auch die Farb- und Licht-Ästhetik der Siebziger Jahre ist präsent - vielleicht eine Reminiszenz an die Rock-Zeiten des Komponisten Irmin Schmidt, Kopf der legendären Kölner Formation "Can". Schmidt hat für die Geschichte des Küchenjungen Steerpike (Stefan Vinzberg), der aus den Katakomben des Schlosses Gormenghast bis zum blutigen Herrscher aufsteigt, einen packenden Soundtrack aus verschiedenen Stilelementen komponiert. Der Großteil der Musik ist vorab von einem klassischen Orchester und mehreren Rockmuskern eingespielt und anschließend verfremdend bearbeitet worden. Dazu spielt vor Ort ein Streichquartett, und die Singstimmen werden live gesungen. In dem 1998 uraufgeführten Mix steckt Musical, Oper und klassische Rockmusik zu gleichen Teilen. Das lässt sich vor allem an den Gesangslinien beobachten, die von Englischer Barockmusik über Britten bis Lloyd-Webber reichen und meist in tonalen, durchaus ohrfreundlichen Gefilden verweilen. Oft schwappen überwältigende Klangwogen in den Saal, kombiniert mit einem satten, treibenden und dennoch fein differenzierten Beat. Da entsteht durch die ungewöhnliche Kombination aus bekannten Elementen ein neues, durchaus eigenständiges musikalisches Kunstwerk. Erst zum Ende hin, wenn der Komponist die Musik, durchaus passend zur Handlung, zunehmend in Richtung Kakophonie treibt, gibt es allerlei Längen. Aber da hat die sehr musikalische, bildmächtige Regie von Andreas Baesler längst ihre Schlingen ausgelegt und den Betrachter in das Mythenschloss hineingezogen. Baesler nimmt die geradezu Shakespeare'schen Dimensionen der Handlung nicht sonderlich ernst. Da jagt ein Panoptikum kurioser Gestalten durch Gormenghast, von der Schweinebrigade des Küchenchefs (Matthias Widmaier) über das skurrile Schlossherren-Paar (Peter Graham und Gerda Maria Knauer), den grellen Arzt (Counter-Tenor Peter Rehkop), die schrillen Zwillinge (Debra Fernandes/Sabine Schnitzer) und das naive Töchterlein (Lea Sarfati). Am Schluss sind die meisten dahingemetzelt, bis der kindliche Thronfolger Titus (der Tänzer Glaub da Silva) den wild gewordenen Emporkömmling Steerpike selbst ins Jenseits befördert. Gelegenheit, diese eigenwillige, mutige Produktion in dem faszinierenden Völklinger Ambiente zu sehen, besteht noch am 9., 11. , 12. Juni. (0681/992680). Vom 30. Juni bis 2. Juli gastiert die Fantasy-Oper dann im Grand Théatre Luxembourg.

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