Raus aus der Lernfabrik

Bitburg · Der Philosoph Richard David Precht kommt im Mai zum Eifel-Literatur-Festival nach Bitburg. Er liest dort aus seinem Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott", in dem er sich für einen gründlichen Umbau des deutschen Bildungssystems stark macht.

Bitburg. Über seine Kritik am derzeitigen Bildungssystem und seine Ideen hat Richard David Precht mit unserer Mitarbeiterin Anke Emmerling gesprochen.
In Rheinland-Pfalz wird gerade über die verbalen Grundschulzeugnisse diskutiert. Die sind vielen Eltern zu unklar, Lehrern zu aufwändig und Politikern zu uneinheitlich. Was halten Sie davon?
Richard David Precht: Das ist Kinderkram. Wir erleben im Augenblick die größte Evolution unseres Bildungswesens seit Humboldt. Ausgelöst durch die digitale Technik werden sich die Berufswelten, die zukünftigen Herausforderungen völlig verändern, und auf alles das muss die Schule sich einstellen. In dieser Situation finde ich eine solche Diskussion absolut albern und rückständig.Eifel-Literatur-Festival 2014


Welche Vorschläge haben Sie für ein besseres Lernen an unseren Schulen?
Precht: Der erste Schritt wäre, per Casting die raus zu filtern, die gerne Lehrer werden wollen und für den Beruf wirklich geeignet sind. Das ist kein Job für Leute, denen nichts anderes eingefallen ist, das ist ein Begabungsberuf. Ich würde nur die nehmen, die andere begeistern können. Da käme aber nur noch die Hälfte derer, die heute unterrichten, durch. Die andere Hälfte sind dann pädagogisch begabte Praktiker. Die Lehrerausbildung müsste die zu einem künstlerischen Beruf sein, also weniger verschultes Referendariat, mehr Persönlichkeitstraining, das wäre der zweite Schritt. Der Dritte wäre Auflösung der Klassen nach dem sechsten Schuljahr und Einführung der Unterrichtsformen fächerübergreifende Projektarbeit und individualisiertes Lernen, letzteres besonders in Mathe. Da haben Sie ab dem sechsten Schuljahr ein enormes Leistungsgefälle. Die richtig Guten könnten in ihrem individuellen Tempo mit einem Computerprogramm arbeiten und mit ihrer Begabung vielleicht ein ganzes Mathe-Studium absolvieren. Die Schwachen hingegen hätten ganz viel Zeit, ein Mindestprogamm zu absolvieren.
Noch halten Sie unsere Schulen für "Lernfabriken", die Kreativität unterbinden. Woher kommen dann all die kreativen Menschen, unter anderem Sie? Braucht es vielleicht auch noch die Familie?
Precht: Für meine Bildung hat eher ein anregungsreiches, kreatives, turbulentes Elternhaus eine Rolle gespielt. Alle meine Interessengebiete habe ich mir trotz der Schule bewahrt. Aber gucken Sie mal in die untere Mittelschicht oder die Unterschicht. Wer sitzt denn abends bis elf Uhr bei Lidl an der Kasse? Was sollen Langzeitarbeitslose, die weder Sinn noch Bedeutung im Leben sehen, ihren Kindern vermitteln? Diese Kinder haben nur eine Chance, wenn sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt von unserem Bildungssystem aufgefangen werden, also schon im Kindergartenalter. Dazu gibt es keine Alternative.
Sehen Sie irgendwo Ansätze von guter Schule?
Precht: In Dänemark. Dort gehen alle Kinder in die gleiche Schule. Nach dem zehnten Schuljahr können sie in einer extra Schule noch ein Abitur draufsatteln. Der Staat steckt den größten Teil des Geldes, das für Familienförderung vorgesehen ist, ins Bildungssystem. Deswegen haben die kleine Klassen, sehr gut ausgebildete Lehrer und vieles mehr. Bei uns hingegen fließt der größere Teil in die direkte Familienförderung, in Form von Kindergeld und dergleichen. Aber in Deutschland gibt es auch hervorragende Schulen, zwei Beispiele sind die Montessori-Gesamtschule in Potsdam und die Freie Evangelische Schule in Berlin Mitte.
Wer soll Ihre Vorschläge eigentlich umsetzen?
Precht: Die Schulen, nicht die Politik. Man sollte Druck auf die Kultusminister ausüben, die Leine zu verlängern, also die Kultusbürokratie abzubauen und den Schulen mehr Freiräume zu geben. Die Schulen könnten sich dann Berater holen, zum Beispiel aus Stiftungen wie der Bertelsmann-Stiftung oder den großen Schulerneuerungsbündnissen und -organisationen wie "Archiv der Zukunft" oder "Schule im Aufbruch", wo ebenfalls viel Kompetenz und Wissen versammelt ist. Eltern allein können nicht viel machen, da gibt es auch das Problem, dass der größte Teil nicht an einer Verbesserung der Schulen, sondern an einer Verbesserung der Leistung ihrer Kinder interessiert ist. ae
volksfreund.de/
eifelliteraturfestival2014Extra

Die Lesung von Richard David Precht am Freitag, 9. Mai, um 20 Uhr in der Stadthalle Bitburg ist ausverkauft. Es gibt aber noch Tickets für die Lesungen von Dieter "Max" Moor am Freitag, 25. April, in der Ex-Hauptschule Prüm, Anne Gest-huysen am Dienstag, 27. Mai, im Forum Daun, Daniel Kehlmann am Freitag, 6. Juni, im Eventum Wittlich, Florian Illies am Dienstag, 9. September, im Forum Daun, Rüdiger Safranski am Freitag, 19. September, und Ferdinand von Schirach am Freitag, 26. September, je in der Stadthalle Bitburg. Bezug über das TV-Service-Center in Trier, die TV-Tickethotline 0651/7199-996 oder die Internet-Adresse www.volksfreund.de/tickets Informationen über das Festival unter www.eifel-literatur-festival.de ae

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