Sibelius und die Insel der Seligen

Trier · Die meisten Besucher im voll besetzten Haus dürften wegen Chopins erstem Klavierkonzert gekommen sein - und sie werden nicht enttäuscht. Aber die eigentliche Sensation des Abends ist der virtuelle Ausflug des Orchesters nach Finnland, mit der ersten Sinfonie von Jean Sibelius.

Trier. Die Auswahl des Komponisten sorgt für den einen oder anderen Kalauer am Rande - heißt doch auch der gerade gewählte Trierer Intendant Sibelius, was dem Programmteil einen Hauch von Hommage verleiht. Reiner Zufall natürlich. Weniger zufällig, dass der Neue tatsächlich da ist und sich im Foyer unter sein künftiges Theatervolk mischt.
Was er im großen Saal zu hören bekommt, dürfte ihm gute Laune bescheren. Denn die städtischen Philharmoniker erwischen bei Sibelius einen Sahnetag. Alter Finne! Da stimmt alles. Beginnend beim zum Sterben schönen Klarinetten-Einstieg von Michael Corde, der den spröde-melancholischen Charme des Nordens wie mit dem Brennglas einfängt.
Dann treibt Schlagwerker Hans Rudolf die Sache unermüdlich voran, die Bassgeigen raunen untergründig-geheimnisvoll, die Streicher liefern die kompliziertesten Zupfrhythmen millimetergenau. Alles spielt miteinander, Dirigent Victor Puhl feuert seine Leute augenzwinkernd an, die Musiker nicken sich in den Pausen zu wie Fußballer, denen ein genialer Spielzug gelungen ist.
So entsteht ein imposantes Klanggebäude, das die Fantasie der Zuhörer anregt. Der eine mag über nordische Gefilde fliegen, der andere raue innere Landschaften besuchen: Die Philharmoniker liefern den Schlüssel, durch die Tür gehen muss der Lauschende selbst. Atemlose Spannung, ein Schuss Depression, eine Prise finnische Folklore: Puhl hält hochkonzentriert über vier Sätze das vorzügliche Niveau. Da passt jeder Anschluss, jeder Einsatz, jedes Finale. Musikalische Glücksgefühle pur.
Der Abend hat schon gut angefangen. Einojuhani Rautavaaras musikalisches Stimmungsbild "Lintukoto", Untertitel "Insel der Seligen", lädt in kurzen, prägnanten Szenen zum Schwelgen ein. Wucht und Farbenreichtum weist das 1995 erschienene Werk auf, das einen Komponisten zeigt, der nach seriellen Phasen wieder zu sozialverträglichen Klängen zurückgekehrt ist und niemandem mehr etwas beweisen muss.
Bleibt noch Chopins erstes Klavierkonzert. Die 29-jährige Pianistin Miao Huang wird ihrem Ruf als großes Talent gerecht. Exzellente Anschlagskultur, stupende Technik, perlende Läufe, eine fast mathematische Perfektion lassen das Publikum jubeln. Die Deutsch-Chinesin spielt erstaunlich souverän. Aber fehlt da nicht was? Die polnische Seele, wie ein Kritikerkollege vermutet?
Kann sein, dass es das ist. Ein Chopin, der in vierzig Minuten nicht ein einziges Mal so richtig ans Herz geht - das hinterlässt bei aller Brillanz eine kleine Lücke. Miao Huang füllt sie mit einer unfassbar virtuosen Zugabe (der Titel wird nicht angesagt, es hört sich aber nach einem der argentinischen Tänze von Ginastera an), bei der man seinen Ohren kaum traut angesichts von so viel Zirzensik und Fingerfertigkeit. Das mit der Seele hat ja noch Zeit. DiL

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