kindergeschichte(n)

Leo ist heute "schwierig", sagt Tante Ilse. Leo ist Annas Vetter und Musikstudent.

Den ganzen Tag sitzt er schon in seinem Zimmer und brütet über einem Blatt Papier. Manchmal hört man draußen im Flur, wie er auf dem Klavier ein paar Töne spielt. Jetzt hat er sogar ein Schild mit der Aufschrift "Nicht stören" an die Tür gehängt. "Was macht der eigentlich die ganze Zeit da drin?", fragt Anna. "Leo komponiert", antwortet Tante Ilse und senkt dabei die Stimme, als ob es sich beim Komponieren um etwas ganz Feierliches handelte. "Scheint ja was ganz Besonderes zu sein", denkt Anna. "Ob Komponieren sehr schwierig ist?" Komponieren, das heißt sich ein Musikstück ausdenken, ist tatsächlich nicht einfach. Vor allem, wenn es sich um ein größeres Werk wie ein Konzert oder eine Symphonie handelt. Genauso wie es nicht einfach ist, eine gute Geschichte oder einen guten Roman zu schreiben. Man muss dafür nicht nur Fantasie und Begabung mitbringen, sondern auch einen Plan haben. Geschichten schreiben und Musikstücke komponieren haben viel gemeinsam. Das fängt schon im Aufbau an. Um eine Geschichte zu schreiben, denkt sich der Erzähler erst mal eine Hauptfigur aus. Das könnte zum Beispiel ein Mädchen wie Anna sein. Bei einem Musikstück wäre Anna dann das sogenannte Hauptmotiv., Während der Erzähler jetzt von Anna berichtet, etwa was sie gern spielt, ob sie fröhlich oder traurig ist, variiert, das heißt verändert der Komponist sein Hauptmotiv. Er lässt es vielleicht mal langsamer oder schneller spielen oder er ändert die Tonart. Irgendwann wird es dann zu langweilig, immer nur von Anna zu berichten. Der Erzähler denkt sich neue Personen aus. Vielleicht Annas beste Freundin, ihre Mutter oder einen Lehrer. Ein Komponist erfindet stattdessen neue Motive, die Nebenmotive. Sie bringt er mit dem Hauptmotiv so in Zusammenhang, dass eine interessante Handlung und ein buntes Bild entsteht. Damit die Sache spannend wird, sind Gegensätze sehr wichtig. Bei einer erzählten Geschichte könnte die nette Anna zum Beispiel irgendeinem Bösewicht begegnen, einer unheimlichen fremden Frau oder einem geheimnisvollen Zauberer. Bei einem Musikstück besteht der Gegensatz im Klang oder im Rhythmus. Einer schönen Melodie auf der Geige könnte man den schrillen Klang von Bläsern entgegensetzten, einer langsamen Tonfolge eine ganz schnelle. So können Komponisten ebenso wie Schriftsteller aus ihren verschiedenen Motiven enorm spannende Geschichten machen. Wer genau hinhört, erkennt wie bei einem guten Buch, welches der Motive Hauptmotiv und was Nebenmotiv ist, wie die Geschichte abläuft und wie sie in ihrem Inneren zusammenhängt. Ein Musikstück kann man genauso hören, als ob man ein Buch von Harry Potter liest. Das ist total spannend. Eva-Maria Reuther

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