reingehört

Es ist der Broadway-Klassiker der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts schlechthin: Leonard Bernsteins "West Side Story". Doch der Lorbeer für dieses seinerzeit revolutionäre Werk gebührt nicht dem Komponisten allein; zur großartigen Wirkung als Gesamtkunstwerk gehören auch die Texte von Stephen Sondheim, der erst später als Komponist von sich reden machte, und die Choreographie von Jerome Robbins.

Geblieben sind Musik und Text in mehreren Plattenaufnahmen, allen voran die originale Broadwaybesetzung von 1957, die Filmversion von 1961 und eine vom Maestro selbst dirigierte Version von 1984, ein ziemlich opernhaftes Produkt mit Kiri Te Kanawa und José Carreras, die in den Rollen von Maria und Tony klingen, als habe Puccini eine Zeitreise ans Ende des 20. Jahrhunderts unternommen. So, wie Bernstein die Partitur für die Broadwaypremiere konzipiert hat, ist die musikalische Romeo-und-Julia-Version bisher allerdings noch nicht erklungen beziehungsweise im Studio für die Nachwelt festgehalten worden. Für die Uraufführung strich Bernstein etwa die Violenstimmen, weil die Musiker im Orchester seinen Ansprüchen nicht genügten. Und der Filmsoundtrack wurde vier Jahre später mit viel Streicherklang und üppigem Blech aufgemotzt, denn Hollywood wollte natürlich nicht knausern. Was der Komponist beabsichtigte, ist also jetzt erstmals in einer konzertanten Gesamtaufnahme zu hören. Michael Tilson Thomas, langjähriger Freund der Bernstein-Familie, hat die Urversion der "West Side Story" mit dem San Francisco Symphony Orchestra eingespielt, dessen Chef er seit 1995 ist. Das Ergebnis kann sich hören lassen: brillant, klangscharf und sauber strukturiert. Die kraftvolle Bläsersektion bildet quasi eine eigene exzellente Big Band im Klangkörper, und die Percussionisten und Schlagzeuger machen den Kollegen ordentlich Dampf. Ein wahres Fest für die Ohren! Cheyenne Jackson (Tony), Jessica Vosk (Anita) und Kevin Vortmann (Riff) sind Sänger, von denen jeder Musicalregisseur träumt: Stimmen zwischen Schmelzen und Schmachten, metallisch scharf und lyrisch weich, von allem etwas und immer genau richtig. Auch Alexandra Silber (Maria) ist eine erfahrene Musicalsängerin mit einer sehr schönen, geschmeidigen Stimme. Doch den verliebten Teenager nimmt man ihr nicht ab, dafür ist das Timbre zu dunkel und melancholisch. Wenn das berühmteste Liebespaar der Weltliteratur auf der Feuerleiter singt, klingt das dann manchmal so, als würde Tony ein Duett mit seiner älteren Schwester anstimmen. Aber das ist auch der einzige Wermutstropfen in einer ansonsten rundum gelungenen Version dieses Klassikers. Rainer Nolden Leonard Bernstein, "West Side Story", mit Alexandra Silber, Cheyenne Jackson, Jessica Vosk, Kevin Vortmann u. a., San Francisco Symphony, Leitung: Michael Tilson Thomas, SFS Media, SFS 0059, über edel-Kultur

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