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39Die erste Nachricht, die Paul Fricke an seinem Arbeitsplatz erhalten hatte, war, dass sein neues Konzept für den Kulturteil der Zeitung - mit wenigen Abstrichen - die Zustimmungder Konzernleitung erhalten habe.

Wie immer in den vergangenen Tagen, seitdem er wieder im Dienst war, nahm er selbst die wenigen positiven Nachrichten nur schweigend zur Kenntnis. Normalerweise hätte er sich und seine Kollegen dafür mit einem guten Beaujolais belohnt. Inzwischen aber hatte sich Paul Fricke hinter einem ganzen Berg voller Bücher verschanzt. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, einige Bände des Brockhaus und dazu ein paar Musik-CDs.Auf dem Schreibtisch blieb gerade noch Platz für die Computer-Tastatur und die Kaffeetasse, seit Neuestem auch für einen gut gefüllten Aschenbecher.Erst gestern hatte Fricke seine Frau im Wittlicher Krankenhaus besucht; ihr ging es schlecht, ein Wirbel war gebrochen, genau wie ihr Herz. Sie würde im Rollstuhl landen. Das war beiden klar. Erneut hatten sie sich eine knappe Stunde angeschwiegen, bevor sich Fricke über das Gesicht seiner Frau beugte, sie auf die Stirn küsste, das Zimmer schweigend verließ und zurück nach Hause fuhr. War es ihm im Krankenhaus noch gelungen, seine Gefühle halbwegs zu bändigen, brach die ganze Verzweiflung auf dem Nachhauseweg im Auto aus ihm heraus. Er war nur wenige Kilometer gefahren, als ihm Tränen in die Augen stiegen, das Brennen der salzigen Flüssigkeit ihm die Sicht auf die Straße nahm und ein Weiterfahren dadurch unmöglich machte. Am Straßenrand hielt er den Wagen an, schaltete den Motor ab, und schon begann das Schluchzen, das ihn fast all die Nächte begleitethatte.Als er sich wieder in der Lage sah, die Fahrt fortzusetzen, wusste er nicht, wie lange er dort gesessen und geweint hatte.Und was ihm durch den Kopf gegangen war, blieb ihm auch dieses Mal wieder suspekt. Wie so oft in den vergangen Tagen.Ohne, dass Frickes es bemerkt hatte, war sein Kollege Peter Linsen ins Zimmer gekommen. Als Fricke ihn nach einem zweiten - diesmal sehr deutlich vernehmbaren - Guten-Morgen-Gruß endlich registrierte, schlich Linsen vorsichtig zum Schreibtisch, wo er sich einen Stuhl schnappte, auf dem sich der Zwei-Zentner-Mann rittlings niederließ: "Paul, ich mache mir Sorgen um dich. Ich möchte dir helfen. Früher haben wir auch unsere Probleme oft gemeinsam gelöst. Wir haben immer über alles gesprochen. Zumindest hatte ich stets den Eindruck. Lass uns mal zusammen essen gehen. Reden. Viel reden und vielleicht mal ...""Nichts ist mehr so wie früher", unterbrach ihn Fricke, der sich nun über seinen Drei-Tage-Bart strich, der ihn seit Kurzem ein gutes Stück ungepflegter aussehen ließ. "Das ist gut gemeint von dir, Peter. Ich bitte dich nur einfach, mich in Ruhe zu lassen. Ich muss bestimmen, wann, wo und mit wem ich reden kann und will. Sonst niemand. Es geht mir noch zu dreckig. Ich bin zu. Mein Kopf, weißt du. Der ist dicht.""Ja. Verdammt, Paul. Das glaube ich dir sogar. Und ich weiß, dass es dir immer noch verdammt dreckig geht. Aber nimm doch wenigstens einmal Hilfe an. Wir anderen sind doch nicht blöd. Wir sind doch auch schon zum Teil länger als zwanzig Jahre in dem Laden hier. Du verkriechst dich nur noch hinter dieser Wand aus Büchern und Zigarettenqualm.Warum redest du mit niemandem über deine scheiß Situation? Das ist schlecht."Fricke zerquetschte die leere Zigarettenschachtel mit einer Hand. Dann öffnete er die obere Schublade seines Schreibtischcontainers und brach aus einer angebrochenen Stange Gitanes ein neues Päckchen heraus. "Tut mir leid, Peter. Es geht in mir drinnen drunter und drüber. Ich brauche Zeit.Aber ich werde das schon schaffen. Habt bitte etwas Geduld mit mir", flüsterte Fricke und sprang urplötzlich von seinem Stuhl auf, feuerte die Zigarettenschachtel in die Ecke und schlug mit der Faust auf den Stoß Bücher vor ihm. "Aber eines verspreche ich dir. Wenn die Polizei es nicht schafft, das Schwein zu finden, das meine Jungs, meine Frau, unsere Ehe, unser ganzes Leben ruiniert hat, dann werde ich es mir selber schnappen."Fortsetzung folgt.Der Roman "Fluchtwunden" ist in allen TV-Pressecentern für 9,50 Euro erhältlich.

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