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53Mein Vater beobachtete, wie sich das Fahrzeug ruckend in Bewegung setzte, wie es an Fahrt gewann und schließlich hinter der Straßenecke verschwand. Dann drehte er sich um, fast wie in Zeitlupe, und ging mit zögernden Schritten den Weg zurück.

Aus einem Impuls heraus rief er, als er das Haus betrat, ihren Namen. Und da begriff er, dass soeben die schlimmste Zeit seines Lebens begonnen hatte.1991: KaterstimmungIch sitze in einem 40-PS-Polo, Baujahr 83, und fahre zu meinem Vater. Meine Schwester hat mich darum gebeten. Sie meint: "Schau mal bei Papa vorbei; es geht ihm überhaupt nicht gut." Und ich denke mir: Genau das ist der Grund, warum ich ihn nicht sehen will.Denn mir geht es gut. Blendend. Ich studiere in Saarbrücken Geografie. Das heißt, ich verbummle mein Studium mit einem angenehm sinnfreien Fach, das mir viel Zeit lässt, der saarländischen Geselligkeit auf den Grund zu gehen. Bei einer dieser nächtlichen Feldstudien lerne ich Sonja kennen. Sonja ist dafür verantwortlich, dass ich mich seit einigen Monaten in einem Paralleluniversum befinde. Sie küsst mich in eine andere Welt. In dieser Welt gibt es keine Erinnerungen an ein früheres Leben und keine Pläne für ein zukünftiges. Die Frage, ob wir jetzt gleich oder in zwei Stunden miteinander schlafen, ist wichtiger als die, womit wir in fünf Jahren unsren Unterhalt bestreiten.Gelegentlich ruft meine Mutter oder meine Schwester an und erinnert mich daran, dass ich kein sippenloses Waisenkind bin. Sobald ich den Hörer aufgelegt habe, vergesse ich sofort, dass ich rund zwanzig Jahre meines Lebens in einem Reihenhaus in einer Hunsrücker Kleinstadt zugebracht habe. Sonja wird es ähnlich gehen. "Ich müsste jetzt eigentlich dieses Referat schreiben", sagt sie. Oder: "Ich müsste mich mal wieder zuhaus melden." Und im selben Augenblick lässt sie dieses seltsame, supersympathisch verschlagene Lächeln aufblitzen, und ich weiß, dass es keine zwei Stunden dauern wird, bis wir miteinander schlafen.So könnte das Leben ewig weitergehen. Aber dann ruft meine Schwester an, und diesmal erzählt sie mir nicht von ihrer Ausbildung als Erzieherin (was mich immer ein wenig ermüdet, weil sie so viele Details erzählt) und auch nicht von ihren Diskoerlebnissen (was mich immer ein wenig aufputscht, weil sie so viele Details erzählt), sondern von meinem Vater. Sie wiederholt etwa zehn Mal, dass es ihm nicht gut geht. Und als ich ebenso oft nachfrage, wie sie das meint, da sagt sie nur, "das musst du selber sehen" (keine Details).Deshalb sitze ich jetzt in einem 40-PS-Polo und fahre in die Welt des Unglücks. Als das "Herzlich willkommen in Rheinland-Pfalz"-Schild auftaucht, werde ich nervös. Weil ich mir gar nicht willkommen vorkomme. Weil ich lieber im Saarland, bei Sonja, geblieben wäre. Und als ich dies denke, fühle ich mich schäbig. Ich bin ein undankbarer Bastard. Ein Rabensohn, der bereit ist, für ein bisschen Vögeln seinen Vater im Stich zu lassen. Kurz darauf fällt mir Sonjas Stöhnen ein, und das schlechte Gewissen verflüchtigt sich. Vielleicht ist es ja so, dass manche Menschen weniger begabt sind, glücklich zu sein, als andere. Und mit diesem Gedanken, der mich von aller Schuld freispricht, nähere ich mich dem ungeliebten Ziel.Ich muss vier Mal klingeln, bevor mein Vater aufmacht. Als ich ihn zur Tür schlurfen höre, sehe ich plötzlich meinen Opa vor mir. Dabei ist mein Vater erst 49. Er schüttelt mir die Hand, führt mich ins Wohnzimmer und bittet, Platz zu nehmen. Es befremdet mich, wie er bemüht ist, den Gastgeber zu mimen- bei seinem eigenen Sohn! Und als müsse er den Part meiner Mutter mitübernehmen, fragt er, ob er mir etwas zu essen anbieten könne. "Ich bedien mich selbst, Papa", und verziehe mich in die Küche. Der Kühlschrankinhalt verlangt Improvisierungskünste. Ich könnte mir ein Brot mit Senf machen. Oder einen Gurkensalat, bestehend aus Gewürzgurken.Egal. Appetit habe ich sowieso nicht mehr. Um peinliches Schweigen erst gar nicht aufkommen zu lassen, erzähle ich von meinem Studium. Verbaler Leistungsnachweis. Mein Vater soll wissen, wofür er mir das Geld überweist. Nach zehn Minuten halte ich inne. Wenn ich noch länger drauflosquatsche, glaube ich am Ende selbst, dass ich ein hoffnungsvoller Nachwuchsakademiker bin. Mein Vater antwortet nicht. Fortsetzung folgt.

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