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30Die gleiche Verbissenheit, mit der sie Wirkstofflisten und Gegenanzeigen auswendig lernte, verwandte sie nun auf die Abwehr des Feindes. Gemeinsam mit Javier Heinzens Wohnungsgenossen, die sie nur Wochen zuvor als "Schmutzfinken" gebrandmarkt hatte, verbarrikadierte sie das Treppenhaus mit Schutt und Sperrmüll.

Sie bewaffnete sich mit einer Dachlatte, und als die Stunde der Entscheidung kam, kämpfte sie wie eine Torera, die nicht davor zurückschreckt, den Bullen bei den Hörnern zu packen.Dieser fügte ihr in rasender Angriffslust eine Fülle von Blessuren zu: angefangen bei der Platzwunde an der Stirn über mehrere geprellte Rippen bis hinunter zum verstauchten rechten Fuß. Nicht zu vergessen: der gequetschte linke Daumen sowie großflächige Schürfwunden an Armen und Beinen. Sie würde in den kommenden Wochen ausgiebig Salben schmieren und Verbände wechseln können. Die größte Sorge aber bereitete ihr eine andere Verletzung. Doch sooft sie auch die Wirkstofflisten in ihrem Kopf durchging, ihr fiel kein Präparat ein, das ein gebrochenes Herz heilt.1982: Michael JacksonAm Tag, als Michael Jackson sich anschickte, mit "Thriller" alle Verkaufsrekorde zu brechen, erwarb mein Vetter Günter seinen ersten Anzug. Ein Ereignis, dessen Bedeutung irgendwo zwischen der Mondladung und dem Untergang der spanischen Armada anzusiedeln ist. Und genau das war der Kauf: ein Untergang, eine Kapitulation. Mein Vetter ergab sich der neuen Zeit.Er wollte nicht länger mit ansehen, wie seine Mitmenschen schlechte Ideen in gutes Geld verwandelten. Die Neue Deutsche Welle war dafür das beste Beispiel. Längst hatte sie den Schlagring gegen die Rassel eingetauscht. Regression statt Aggression. Sogar die Babysprache hatte man Gewinn bringend wiederentdeckt. Mit "Da da da" konnte man wunderbar reich werden. Und als eine Band mit Namen UKW mittels Reimlexikon die ZeilenTinaIst das nicht primaWas für ein KlimaHaben wir hier schlechtes KlimaFahren wir sofort nach Limazusammenhaspelte und damit einen Nummer-Eins-Hit landete, da dämmerte es meinem Vetter, dass es höchste Zeit war, selber Kasse zu machen.Die Voraussetzungen dafür standen nicht schlecht. Günter kam es zugute, dass er keine Scheu vor Leuten hatte, die andere am liebsten durch Gardinen hindurch wahrnehmen, bevorzugt schwedischen Fabrikats. Aus verständlichen Gründen war seine Neigung, Drogen zu vertreiben, gering. Er suchte ein Handelsgut, das unverdächtig war. Eine Ware, die gesetzestreue Staatsbürger dazu verleiten würde, ihre ethischen Prinzipien für vierzig Prozent Preisnachlass über Bord zu werfen.Die Wahl fiel nicht allzu schwer. Nachdem die bundesdeutschen Haushalte sich doppelt und dreifach mit Farbfernsehern eingedeckt hatten, waren nun die Videorekorder an der Reihe. Auch zeigten die hartnäckigen Warnungen der Hifi-Branche vor Klirrfaktoren, Gleichlaufschwankungen und Fremdspannungsabständen endlich Wirkung. Menschen, die einen Kontrabass nicht von einer Geige unterscheiden konnten, setzten sich in den Kopf, in neue Klangdimensionen vorzustoßen. Tadellos funktionierende Kompaktanlagen aus den 70ern wurden an den Nachwuchs durchgereicht oder landeten in staubigen Trödelläden, in der Ecke für Elektroschrott. Mit einem Mal war ein Soundsystem verlangt, das Töne erzeugte, die jenseits des fürs menschliche Ohr noch wahrnehmbaren Frequenzbereichs lagen. Und so geschah es, dass Günters Garage zum Fachmarkt für Unterhaltungselektronik wurde.Alles Weitere war ein Kinderspiel. Die Ausgaben für Werbung und Marketing beschränkten sich auf Inserate in wöchentlichen Anzeigenblättern: "Restbestände: Videorekorder und Hifi-Systeme preisgünstig abzugeben." Bei den "Restbeständen" handelte es sich um Geräte, die "zufällig" von LKW-Pritschen gerutscht oder Opfer des "natürlichen" Schwunds in den Lagern von Elektrofachmärkten geworden waren. Die offizielle Version lautete anders. Wenn Kunden nachfragten, warum er seine Produkte so preiswert anbieten könne, erzählte mein Vetter die schöne Mär der "Re-Importe". Fortsetzung folgt.Das Buch "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist in allen TV-Pressecentern für 19,90 Euro erhältlich.

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