roman_77_1804

77In einem Alter, in dem es noch erzieherische Wirkung gehabt hätte. Aber sie hatte es versäumt. Es war wohl ihr Fluch, dass sie die wichtigen Dinge verschlief. Ihre Jugend, ihre fruchtbaren Jahre, ihr ganzes Leben.Als sie Günters noch immer verstörten Blick registrierte, fasste sie sich wieder: "Nein, wir werden Mutter nicht in eine Klapsmühle stecken.

Sie braucht keine Zwangsjacke. Was sie braucht, ist Ablenkung." Und weil Sieglinde mit so viel Nachdruck gesprochen hatte, als beabsichtigte sie, ein zweites Mal auszuholen, sah er sofort ein, dass es sicher besser wäre, Tante Gertrud statt in eine Anstalt auf einen Bauernhof in ein Dorf nördlich von Zwickau zu verfrachten. Schon im eigenen Interesse.Womit zwei Fliegen auf einmal erledigt waren. Wiederholt hatten Waldemar und Alwin meinen Vetter gedrängt, sie doch zu besuchen, um sich ein Bild vom "sächsischen Wirtschaftswunder" zu machen. Zwar hatten sie nichts davon gesagt, dass er die ganze Verwandtschaft mitbringen solle, aber darauf konnte Günter nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Wir reisten in großer Besetzung an: mein Vetter, meine Kusine, meine Tante und ich- als arbeitsloser Grafiker verfügte ich über alle Zeit der Welt, die Geheimnisse des fernen Ostens zu ergründen. Sogar mein Vater hatte sich im letzten Augenblick entschlossen mitzukommen. Er würde schon etwas finden, was der Renovierung bedurfte.Er sollte sich irren. Was uns entgegenstrahlte, war ein hochglanzpoliertes Anwesen. Auch stellte sich heraus, dass die Bezeichnung "Wirtschaftswunder" im gegenständlichen Sinne gemeint war: Meine Großvettern betrieben neben der Viehzucht eine Gaststätte. Dies war die Idee von Zlata und Bozena gewesen. Die beiden hatten überschlagen, dass der Verkauf eines Schweins mehr Geld einbrachte, wenn man es portionsweise, mit reichlich Pils zum Nachspülen, servierte. Da traf es sich gut, dass der Ehemann von Kristin, meiner grenzüberschreitenden Kindheitsliebschaft, einen Bierverlag leitete.Kristin selbst packte in der Kneipe mit an. Noch immer war ihr Grinsen so breit wie eine Sichel, bloß dass es nun im Dienste des Kapitalismus stand. Wahrscheinlich tranken die Männer viel mehr als sie vertrugen, nur um wieder und wieder in den Genuss dieses Lächelns zu kommen. Auch begrüßte sie mich, wie damals, mit einem frechen "Na Du?". Doch es folgte keine Einladung zum Händchenhalten, sondern die umsatzfördernde Frage, was ich trinken wolle.Ich wollte Bier trinken. Viel Bier. Manche Menschen werden von Bier müde, andere fangen an zu singen. Bei mir hat Bier die Wirkung eines Dampfstrahlreinigers. Es säubert meinen Kopf von kleinlichen Gedanken. Aus einem Kümmelspalter wird ein großer Philosoph. Der Bierrausch schärft das Bewusstsein für die entscheidende Frage des Lebens: Wie werde ich am besten glücklich und mit wem? Am nächsten Morgen wachte ich dann auf mit ein paar tausend Gehirnzellen weniger und fühle mich befreiend leer, so angenehm schlecht.Auch bringt mich Bier auf prächtige Ideen. Als Kristin mir ihr "Na Du?" entgegenschleuderte, stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, sie zu küssen. Nach drei Bier entwarf ich erste Pläne. Noch mal drei Bier später setzte ich diese in die Tat um. Ich gebe zu, dies war nicht sonderlich schwer. Auch Kristin schien, um der guten alten Zeiten willen, einem Flirt nicht abgeneigt. Wir mussten nur warten, bis die Kneipe sich geleert hatte. Die Frage, "kannst Du immer noch so gut küssen wie früher?", beantwortete sie ohne Worte.Sie konnte viel besser küssen als früher. Und doch fehlte etwas. Ihr Kuss sprudelte nicht mehr; er schmeckte nach schalem Bier und Zigaretten. Nach einer Minute legten wir eine Pause ein. Jetzt hätte die Textpassage kommen müssen. Aber wir schauten uns nur an wie zwei Mittdreißiger, die plötzlich feststellen, dass selbst Knutschen nicht die Jugend zurückbringt. Schließlich schüttelte Kristin den Kopf, "Mensch, ich bin verheiratet!"In den folgenden Tagen beschränkten sich unsere Unterhaltungen auf Grußformeln. Es regnete viel, und das schlug sich auf die allgemeine Stimmung nieder. Sieglinde war noch schweigsamer als sonst, Günter grantelte vor sich hin, und ich musste mich damit abfinden, dass der Aufenthalt in Schweineställen weder mönchische Gelassenheit beförderte noch neue Horizonte eröffnete. Fortsetzung folgt.Das Buch "Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage" ist in allen TV-Pressecentern für 19,90 Euro erhältlich.

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