"Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei" - CDU-Politiker Heiner Geißler fordert mehr Bürgerbeteiligung

Prüm · Der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler ist zu Gast beim Eifel-Literatur-Festival. Am Freitag, 27. April, 20 Uhr, spricht er im Cusanus-Gymnasium in Wittlich über neue Formen der Demokratie.

 CDU-Politiker Heiner Geißler kommt zum Eifel-Literatur-Festival. Foto: dpa

CDU-Politiker Heiner Geißler kommt zum Eifel-Literatur-Festival. Foto: dpa

Prüm. In seinem neuesten Buch "Sapere aude!" (Wage zu denken), beschwört der CDU-Politiker Heiner Geißler eine neue Form der Demokratie. Sein Credo: Bürger müssen sich aus ihrer Unmündigkeit befreien und wichtige Entscheidungen selbst in die Hand nehmen. Über seine Thesen sprach er mit unserer Redakteurin Stefanie Glandien.
Ihr Einsatz als Schlichter beim Projekt Stuttgart 21 ist nun gut ein Jahr her. Seitdem haben wir es in Deutschland mit dem sogenannten "Wutbürger" zu tun, der sich immer häufiger zu Wort meldet. Wie erklären Sie sich dieses neue Phänomen?
Heiner Geißler: Die sogenannten "Wutbürger" lassen sich nicht mehr alles gefallen. Sie erleben, dass ihr Geld, der Euro, von internationalen Spekulanten gefährdet wird, dass demokratisch gewählte Politiker offenbar die schamlosen Boni von Investmentbankern nicht begrenzen und die täglichen Billionenumsätze von Börsenspekulanten nicht besteuern können. Die Behörden organisieren Planfeststellungsverfahren, in denen die Leute Bescheide von oben, aber keine echten Beteiligungsmöglichkeiten bekommen. Sie sind nicht mehr ohne weiteres bereit, Baustellen in der Nachbarstraße, eine Starkstromleitung über ihrem Haus oder einen Großflughafen in der Nachbarschaft zu akzeptieren, weil sie nicht wissen, von wem diese gigantischen Investitionsprojekte letztendlich bestimmt werden, welche Interessen sich damit verbinden, wer daran Geld verdient. Weil die Leute das Vertrauen in die Politik verloren haben, wollen sie ihre Angelegenheiten selber in die Hand nehmen.

In Ihrem Buch befürworten Sie mehr bürgerlichen Widerstand und plädieren für eine neue Form der Bürgerbeteiligung. Wie dürfen wir uns das vorstellen?

Geißler: Immer mehr Menschen schlucken nicht mehr brav eine Zumutung nach der anderen, sondern begehren auf, streben danach, sich umfassend zu informieren und gelangen zu eigenen unabhängigen Urteilen. Im vorhandenen Baurecht leistet sich Deutschland ein hochbürokratisches Verfahren mit vielen Doppel- und Dreifachprüfungen, unzumutbarem Zeitaufwand und kostspieligen Mehrfachgutachten. In Umkehrung der bisherigen Verfahren muss in der Zukunft am Anfang eines Vorhabens die Formulierung des Zieles eines Projektes, also einer Brücke, eines Flughafens, eines Bahnhofs stehen. Dieser Plan muss ausführlich öffentlich erörtert werden einschließlich möglicher Alternativen, vor allem durch Faktenchecks und andere Formen informativer Bürgerbeteiligung. Danach werden das Projekt und seine Alternativen zur Abstimmung gestellt.

Sie plädieren für die totale Transparenz. Brauchen wir zukünftig überhaupt noch Parlamente und Politiker oder stimmen zukünftig die Bürger per Internetforen ab?
Geißler: Die direkte Bürgerbeteiligung ist kein Ersatz, sondern eine notwendige Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Durch sie können Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen in die Demokratie zurückgewonnen werden.
In einer Zeit mit Internet, Facebook, Twitter, Billionen Webseiten und der möglichen Mobilisierung von zehntausend Menschen innerhalb kurzer Frist per Mausklick kann die Demokratie nicht mehr so funktionieren wie im letzten Jahrhundert. Die Zeit der Basta-Politik von oben nach unten ohne Beteiligung der betroffenen Bürger ist vorbei.

Es heißt doch: Viele Köche verderben den Brei. Kann es wirklich sinnvoll sein, dass allen das Recht zusteht, über gewisse Projekte zu entscheiden?

Geißler: Die Behauptung, bei einer Verstärkung der unmittelbaren Demokratie sei die Realisierung von Großprojekten nicht mehr gewährleistet, ist falsch. Im Gegenteil.
Eine Fortsetzung der bisherigen obrigkeitlichen Verfahren führt, wie die Vorgänge bis in allerjüngste Zeit beweisen, zu langanhaltenden massiven Protesten und Auseinandersetzungen, erheblichen politischen Verwicklungen und jahrelanger Lähmung der Entscheidungsprozesse. Die ersten Pläne für Stuttgart 21 entstanden 1994. Heute im Jahre 2012 hat man in Stuttgart noch nicht einmal richtig angefangen zu bauen.

Wo ist für Sie die Grenze der Bürgerbeteiligung?

Geißler: Ich glaube nicht, dass Volksabstimmungen über außen- oder verteidigungspolitische Fragen, über Steuern- und Haushaltsentscheidungen sinnvoll sind. Auch über das Grundgesetz kann nicht abgestimmt werden.

Stichwort Kommunalreform: In Rheinland-Pfalz sollen sich Verbandsgemeinden auf freiwilliger Basis zusammenschließen. Nach dieser Phase wird das Land "Zwangs-Ehen" anordnen. Die Wünsche der Bürger in den betroffenen Ortschaften interessieren nicht. Da läuft doch was falsch, oder?

Geißler: Die Kommunalreform, vor allem der Zusammenschluss von Verbandsgemeinden, kann nicht über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden werden. Die letzte Entscheidung über diese Fragen muss durch eine Volksabstimmung in den betroffenen Gemeinden erfolgen.
Die Veranstaltung im Cusanus-Gymnasium in Wittlich ist inzwischen ausverkauft.

sn
Extra

Heiner Geißler war Bundesminister, CDU-Generalsekretär und 25 Jahre lang Bundestagsabgeordneter. Zuletzt machte er in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam, als er versuchte, den Konflikt um das Bahnprojekt Stuttgart 21 zu schlichten. sn

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