Scharfer Beobachter mit tiefgründigem Witz

Aufgetakelte Mädels, ungezügelte Lebenslust, ein Hang zur Anarchie: Der deutsch-russische Kultautor Vladimir Kaminer hat in Adenau den rund 330 Gästen mit geschärftem Blick und reichlich Wortwitz einen tiefen Einblick in die russische Seele gegeben - und so manches Klischee bedient.

Adenau. Da steht er auf der Bühne der ausverkauften Hocheifelhalle in Adenau (Kreis Bad Neuenahr-Ahrweiler), ganz in Schwarz gekleidet, der schmächtige Mann von gerade einmal 1,70 Meter Körpergröße. Das Publikum johlt mal wieder über einen seiner herrlichen Witze, aber sein Blick richtet sich kaum auf. Es ist eher bewusstes Understatement denn Schüchternheit, das der seit seinem fulminanten Debüt mit dem Erzählband "Russendisko" im Jahr 2000 zum Kultautor avancierte Vladimir Kaminer an den Tag legt.

Aber wehe, wenn er wieder loslegt und mit unbändigem Mitteilungseifer und dem herrlich russischen Akzent mit langgezogenen Vokalen und verschluckten Umlauten von seiner nächsten unerhörten Begebenheit aus dem Alltag berichtet. Zumeist dem seiner russischen Landsleute, aber auch seiner deutschen Mitbürger, deren Verhalten er spätestens seit seinem Umzug nach Berlin 1990 genauso unter die Lupe nimmt.

"Im Kaukasus kleiden sich die Mädels so dermaßen rattenscharf, dass einem die Luft wegbleibt. Müssen sie aber auch, wie soll man sonst bei der dünnen Besiedlung über kilometerweite Entfernungen auffallen?", lautet seine These zum außergewöhnlichen Modegeschmack seiner russischen Mitbürgerinnen. Und auch für das dazu eher gegenteilige Modeverhalten der Berliner Frauen hat er seine Erklärung: "Sie setzen dann doch eher auf innere Werte, was angesichts der Enge der Großstadt ja auch durchaus verständlich ist."

Solche Beispiele sind es, die ihm zu Recht den Ruf eingebracht haben, der wohl wichtigste Vermittler zwischen Deutschen und Russen beziehungsweise Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion zu sein. Er gibt tiefe und gleichwohl witzige Einblicke in die sogenannte russische Seele, bedient dabei das ein oder andere Klischee, hält aber auch den Deutschen den Spiegel vor. Und zwar nicht von oben herab, sondern aus der Mitte der Gesellschaft(en). Sein Motto könnte lauten: Übereinander lachen ist schon in Ordnung, miteinander noch besser.

Kaminer beobachtet genau, nimmt sich Zeit, den alltäglichen Dingen, die die meisten Zeitgenossen gar nicht mehr wahrnehmen, auf den Grund zu gehen. Und er zieht daraus seine Schlüsse. Kunstvoll kreierte Fotos von Salaten in einem Kochbuch sind für ihn schlichtweg verwackelt. Und er fragt: "War der Salatfotograf hungrig oder besoffen?"

Und er hat Hunderte, vielleicht Tausende solcher Abwegigkeiten im Sinn. Etliche davon aufgeschrieben. "17 Bücher soll ich bislang geschrieben haben. So ein Quatsch. Ich erzähle eigentlich immer nur die gleiche Geschichte weiter. Mein Verlag hat das nur noch nicht kapiert. Aber ich kann ja wiederkommen, dann machen wir an dieser Stelle weiter", sagt er - und erntet erneut lautstarken Applaus. Festivalchef Josef Zierden hat dies auch zur Kenntnis genommen.

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