60 Sekunden auf dem Dach

ALTRICH. Putzmunter fühlt er sich, trotz seines gefährlichen Einsatzes vor fast 20 Jahren: Ex-Soldat Sergej Purykin hat als "Liquidator" im verstrahlten Tschernobyl gearbeitet. Heute lebt er in Altrich.

Als "Schutz" musste eine dünne Staubschutzmaske herhalten, dazu gab es Handschuhe. Sergej Purykin, Offizier der sowjetischen Armee, stand mit einem Aufräumtrupp vor der Pumpstation des Kernkraftwerks Tschernobyl, keine 500 Meter entfernt vom zerstörten Block 4. Der junge Mann kam frisch von der Militäruniversität für chemische Kriegsführung im nordrussischen Kostroma. Im Studium hatte er sich mit Nervengasen, Schutzmitteln und Schadensbegrenzung befasst. Am versiegelten Kernkraftwerk traf er auf die Realität: Trümmer, verlassene Häuser, Gefahren. Etwa 15 Monate zuvor war Block 4 explodiert - "einen Tag vor meinem 20. Geburtstag. So etwas merkt man sich", sagt Purykin im Rückblick. Nun sollte er das Dach der Pumpstation "säubern": per Leiter ging es mit zwei Arbeitern hoch, oben nahm einer eine Hacke in die Hand und zerschlug den Beton des Stationsdachs, während hinter ihm die anderen die Bruchstücke auf bereit stehende LKW herunterwarfen. Das Ganze dauerte nur eine Minute, dann hieß es auch schon wieder runter vom Dach - wer hier länger blieb, riskierte eine zu hohe Dosis der Strahlung. "Einmal klebte an meiner Arbeitshose ein Stück Dreck vom Dach", sagt der heute 41-jährige Purykin, ein Dosimeter zeigte "schreckliche" Werte. "Ich hab zugesehen, dass ich diesen Dreck so schnell wie möglich abgewaschen bekam." Nach fünf Tagen durfte er nicht mehr aufs Dach - zu hohe Strahlenwerte in seinem Körper. Zwei Monate lang war Purykin im Sommer 1987 in Tschernobyl aktiv - einer von hunderttausenden "Liquidatoren", die nach der Reaktorkatastrophe zum Aufräumdienst abkommandiert wurden. Neben dem hochgefährlichen Dach der Pumpstation säuberte sein Team Häuser kontaminierter Dörfer und den Boden einer Elektrizitätsanlage: Kehren, Lack auftragen, trocknen lassen und mit dem daran klebenden radioaktiven Staub abziehen. "Abends haben wir unsere Masken abgegeben und uns mit einer braunfarbenen Seife gewaschen, die uns gefährlicher erschien als der Staub." Die strahlende Gefahr habe er damals nicht so sehr als solche wahrgenommen. "Als Offizier hatte ich mehr Angst vor dem Gefängnis wegen Befehlsverweigerung", erinnert sich Purykin. Andere lockte die üppige Lohnzulage. "Im Nachhinein betrachtet, war das damals eine chaotische Situation ohne richtige Planung." Weil die Strahlung unsichtbar blieb, wiegten sich manche auch in Sicherheit: "Ich habe einen Wachpolizisten in Erinnerung, der im gesperrten Gebiet nach Fischen geangelt hat. Und anderswo waren ältere Einwohner zurückgekehrt: 60 oder 70 Jahre alt, sie wollten nicht von ihrer Heimat getrennt werden." Vor neun Jahren ist Ex-Soldat Purykin, damals mit einer Deutschen verheiratet, in die Region gekommen und arbeitet als Druckhelfer, sein Deutsch ist fließend. "Deutschland ist meine neue Heimat", sagt der im heute usbekischen Taschkent aufgewachsene Sohn russischer Eltern. Über Tschernobyl mache er sich nach so langer Zeit nur wenig Gedanken, und wenn, dann im Zusammenhang mit seinen einstigen Kollegen: was aus ihnen geworden ist, wo sie sind, ob es ihnen gesundheitlich gut geht. "Vielleicht habe ich Glück gehabt, aber ich bin froh, keine Schäden davongetragen zu haben", sagt Purykin. Erhöhte Blutwerte habe er nicht, damals in Tschernobyl sei die medizinische Untersuchung aber "ausgesprochen mangelhaft" gewesen. Strahlungsmessgeräte gab es beispielsweise nur für jeden fünften Arbeiter. Purykin, mittlerweile in zweiter Ehe, freut sich daher vor allem über seinen jüngst geborenen Sohn, der vollkommen gesund sei. "Gewisse Sorgen habe ich mir vor seiner Geburt schon gemacht", bekennt der einstige "Liquidator".

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