Als Dornröschen noch nicht schlief

WITTLICH. Schankraum, Gaststätte und ein vertäfelter Raum für Gesellschaften: Im Wittlicher Bahnhof tobte einst das Leben. Hildegard Sturm erinnert sich im TV an vergangene Zeiten.

Wenn ihr Blick heute auf den alten Wittlicher Bahnhof fällt, kommen ihr bildlich gesprochen die Tränen. Hildegard Sturm lebte von 1948 bis 1962 hier und betrieb mit ihrem Mann eine gut gehende Gastwirtschaft. Schwerpunkt sei der Restaurantbetrieb gewesen, erinnert sich Hildegard Sturm, die bereits im elterlichen Café groß geworden ist. Ihr Ehemann Anton, ausgebildeter Koch und Konditor, habe nicht nur fabelhaft kochen können, sondern noch eine weitere Leidenschaft habe dafür gesorgt, dass die Gaststube zum Publikumsmagneten wurde: Er gärtnerte für sein Leben gern, nutzte Kräuter, Gewürze und Tee für die Gäste, steckte aber auch seine Blumen zu prachtvollen Arrangements zusammen, die ihresgleichen suchten. "Man hat uns oft gesagt, dass die Blumen DER Magnet gewesen seien", sagt die ehemalige Inhaberin des Gebäudes, das heute einen traurigen Anblick bietet. An zentraler Stelle in der Innenstadt bröckelt der Putz, lösen sich Steine – der alte Bahnhof verfällt langsam vor sich hin. Doch das soll bald Vergangenheit sein. Die Stadt hat einen Investor gefunden (der TV berichtete). In der Wirtschaftswunderzeit hatten die Sturms alle Hände voll zu tun , weit entfernt waren Papa und Mama Sturm mit den beiden Töchtern von der 38,5-Stunden-Woche . Bereits um 5.50 Uhr musste für die ersten Bahnreisenden das Lokal geöffnet sein. Diesen Part übernahm meist Anton, der zu dieser Stunde bereits mit frischen Blumen aus dem Garten in der Koblenzer Straße zurück war. Die Spätschicht bis 24 Uhr war die Aufgabe seiner Ehefrau, wobei Anton dafür sorgte, dass die Bahnangestellten ein Auge auf sie hatten, denn nicht selten kam es gegenüber – vor dem Haus Mehs – zu Schlägereien. Am Heiligen Abend war immer bis 20 Uhr geöffnet. Hildegard Sturm erzählt: "Der erste Weihnachtsfeiertag war unser einziger freier Tag im Jahr. Und selbst dann mussten wir für den zweiten Feiertag vorsorgen." "Wenn man es streng nimmt, verdient ein Streckenwärter nicht weniger als wir", war ein geflügeltes Wort innerhalb der Familie. Trotz all der Arbeit war die Familie Sturm glücklich. Schließlich war es wirtschaftlich gesehen eine Blütezeit. Im Schankraum für die dritte Klasse herrschte kein Verzehrzwang, es war auch so genug los. Zahlreiche Gäste wie unverheiratete Lehrer aßen sechsmal die Woche am Bahnhof zu Mittag, Familien kamen meist sonntags. Und wenn ein guter Film gelaufen war, gönnten sich die Kinobesucher gerne noch eine zusätzliche Mahlzeit im Bahnhofsrestaurant. Größter Beliebtheit habe sich dabei die "Bahnhofsplatte" erfreut: Die bestand aus je zwei Scheiben Roastbeef und gekochter Zunge, Kartoffelsalat und russisch Ei. Das Ganze gab es für 2,50 Mark. Als die Sturms das Lokal 1948 übernommen hatten – das Wohnhaus in der Burgstraße, in das sie später zurück gingen, war durch Bomben zerstört –, waren unmittelbar zuvor die Franzosen rausgegangen. "Es sah drinnen furchtbar aus", erinnert sich Hildegard Sturm. Manchmal habe sie mit Kleidung die Handwerker bezahlt. Auf eigene Kosten bauten die Sturms eine Pergola am Gebäude an und ermöglichten damit den sommerlichen Terrassenbetrieb. Zu manchem Tanz-Tee saß die Wirtin selbst am Flügel. Ein wenig Ruhe fand das Ehepaar Sturm und die beiden Töchter im Stübchen nebenan: Hier aßen sie gemeinsam zu Mittag. "Was biste bloß so dünn?", sei eine typische Frage an Hildegard Sturm in dieser Zeit gewesen. Ihre Antwort: "Ich komm ja kaum zum Essen!"

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