Den totalen Krieg für beendet erklärt

Nach einer 6-monatigen Frontbewährung in Russland an der Rollbahn Smolensk-Orscha wurde ich im Mai 1944 zum Fähnrich- und Oberfähnrich-Lehrgang zur Kriegsschule VII nach Millowitz bei Prag abkommandiert.

Dort erlebten wir den 20. Juli, der uns die Augen endgültig öffnete. Der Kommandeur unserer Schule, General de Boer, verkündete zwar pflichtgemäß den Führerbefehl, dass ab sofort der militärische Gruß durch den Hitlergruß abgelöst wird, hielt sich selbst aber nicht daran. Er wurde am nächsten Tag verhaftet. Als frisch gebackener 20-jähriger Leutnant wurde ich im Januar 45 nach Mülheim/Ruhr zu den 77ern versetzt und erhielt den Auftrag, die Volkssturmeinheit der Mühlheimer Röhrenwerke (alle Männer zwischen 50 und 60) an Handfeuerwaffen auszubilden. Ich verstand die Welt nicht mehr. Im März erhielt ich den Befehl, mit den Resten der Ausbildungskompanie (ein Feldwebel, zwei Unteroffiziere und 62 Rekruten) zwischen Unna und Hamm den Ruhrkessel zu verlassen. Wir fuhren mit drei LKW in Richtung Unna, stießen aber zehn Kilometer vor Unna schon auf Gefechtslärm. Der Kessel war zu. Da keine Verbindung mehr zum Bataillonsstab bestand, und um uns herum alles in Auflösung zu sein schien, schlug ich meinen Unteroffizieren, die mein Vater hätten sein können, vor, jegliche Feindberührung zu vermeiden und uns zunächst um die Versorgung unserer Truppe zu kümmern. Nach Mülheim konnten wir nicht mehr zurück, weil eine amerikanische Panzerspitze uns den Weg abgeschnitten hatte. Wir fuhren in Richtung Menden Werdohl zum Lennetal. In Radevormwald erkundigten wir uns nach Unterkunftsmöglichkeiten und fanden etwas abseits mehrere Bauernhöfe in einer Talsenke "in den Ülfen". Mit Erlaubnis der Bewohner bezogen wir die große Scheune. Von den Einwohnern erfuhr ich, dass sich aus fast allen Richtungen motorisierte US-Einheiten nähern. Bevor sich alle in die Scheune verkrochen, denn alle waren todmüde, erklärte ich den Unteroffizieren und der Mannschaft, dass ich den unsinnigen "totalen" Krieg für uns für beendet erkläre, also bei Annäherung der Amerikaner keinen Widerstand befehlen werde. Das war zwar kein Desertieren, aber jeder hätte mich jetzt wegen Zersetzung der Wehrkraft erschießen können. Statt dessen spürte ich große Erleichterung und Zustimmung. Mein Feldwebel erklärte dann noch der gesamten Mannschaft, dass wir zwar nicht überlaufen werden, sondern uns einem sich nähernden bewaffneten Gegner ergeben werden und bedankte sich bei mir für diese mutige Entscheidung. Aber jetzt mussten wir noch das Verpflegungsproblem lösen. Bei der Bevölkerung war ja nichts mehr zu holen. Aber in der Nähe von Hückeswagen sollte es eine Brotfabrik geben. Ich nahm einen Unteroffizier und drei Mann und fuhr mit einem unserer LKW los. Wir waren noch nicht ganz aus Radevormwald raus, als wir aus einem Waldstück von rechts von einer MG beschossen wurden. Wir hielten sofort an. Das Feuer wurde eingestellt, der auf der rechten Beifahrerseite sitzende Soldat war getroffen worden, aber nur leicht verletzt. Ich stieg aus und gab zu erkennen, dass wir uns ohne Widerstand ergeben wollten. Aus einem Seitenweg kam ein Panzerspähwagen und dahinter ein Kübelwagen und einige mit MP's bewaffnete US-Soldaten, die zunächst unsere Waffen einsammelten, den Verletzten versorgten und mich zum Kübelwagen brachten, in dem ein Major saß, der mich gleich fragte ob ich englisch spreche. Auf mein Ja hin fragte er nach meinem Alter, Dienstgrad, Einheit und woher und wohin und wo unsere Stellungen wären. Ich habe versucht, ihm unsere Situation so gut es in meinem Schul-Englisch ging, zu erklären. Er wollte nicht glauben, dass wir nur auf Verpflegungssuche für den Rest einer Rekrutenkompanie waren, die sich in Radevormwald aufhält und Hunger hat, aber keinerlei Widerstand leisten wird. Ich musste zu ihm in den Wagen steigen und seinen Fahrer zu unserem Bauernhof in den Ülfen führen. Dort war natürlich alles in heller Aufregung. Ich befahl sofort anzutreten und alle Waffen abzulegen. Der Major nahm Funkkontakt mit seinem Stab auf und forderte zwei LKW zum nächsten Sammellager an, wo wir auch verpflegt werden sollten, und einen Ambulanzwagen für unseren Verwundeten. Meinen Soldaten war die Erleichterung anzusehen, dass nun dieser Wahnsinn ein friedliches Ende gefunden hatte. Am nächsten Tag wurden wir in der Nähe von Gummersbach ausreichend verpflegt. Im Ruhrkessel war damit offensichtlich der Krieg beendet. Wir wurden dann mit schweren LKW zum Rhein und über die B8 in Richtung Königswinter und nach Überfahrt per Fähre über die B9 nach Andernach gebracht. Dort wurden wir in zwei geschlossene Güterwagen gesperrt und über Nacht abtransportiert. Wir waren etwa 80 bis 90 Offiziere aller Dienstgrade vom Leutnant bis zum Oberst. Nach einer 24-stündigen Bahnfahrt wurden wir in Attichy in Frankreich ausgeladen, wo die Amerikaner auf einem Flughafen riesige Lager eingerichtet hatten. Hier verbrachten wir mit mehr oder weniger Schikane den sehr heißen Sommer 1945 und hatten das Glück, im November über Münster in Bonn auf der Jahnwiese entlassen zu werden, vorausgesetzt man hatte sich für die britische Zone entschieden. Der Text stammt von Martin Werdün. Nach dem Krieg versuchte er den Neuanfang als Arbeiter bei Ford in Köln. Er arbeitete sich hoch zum Manager in Ford of Europe. 1981 verlegte er seinen Hauptwohnsitz nach Traben-Trarbach, seit 1986 ist er Pensionär.

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