Theater Denn sie wissen, was sie tun: Wintricher proben intensiv für die Passionsspiele

Wintrich · Ein Dorf trägt Bart, die Kircheneinrichtung wird auf den Kopf gestellt, und Sänger werden gestapelt: In Wintrich sind die Proben für die Passionsspiele in der heißen Phase. Im März feiern die mehr als 200 Mitwirkenden die Premiere.

Wintricher proben intensiv für die Passionsspiele
Foto: Adrian Froschauer

Es sieht ein bisschen so aus, als würde er dirigieren, wenn Dirk Kessler wild gestikuliert, die Arme hochreißt, die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, die Augen aufreißt, das Gesicht verzieht – wenn seine ganze Mimik und Gestik zu entgleisen droht. Kessler führt Regie. Passioniert. „Nein, nein, nein“, unterbricht er einen der Schauspieler. In gelangweiltem Tonfall: „Sag nicht: ‚Quält ihn.‘“ Mit gefletschten Zähnen und bebender Stimme: „Sag: ‚Quält ihn!‘“

Kessler spornt die Darsteller in der Pfarrkirche St. Stephanus in Wintrich an, den Sohn des Herrn zu quälen. Denn sie studieren die Leidensgeschichte Jesu Christi ein. Am 11. März ist Premiere der Wintricher Passionsspiele, und die Proben sind in der heißen Phase.

Silbertaler und Bierkästen

Zwischen den Bänken des Gotteshauses liegen Sandalen und Winterjacken, Schwerter und Kaffeebecher, Silbertaler und Kekse. Bei früheren Passionsspielen habe es Diskussionen gegeben, was bei den Proben in der Kirche erlaubt sei, erzählt Frank Hintze, der einen der Pharisäer darstellt. Wie viel Ehrfurcht ist angebracht? Darf man herumbrüllen, scherzen, in den Pausen essen? „Aber eines Tages besuchte der damalige Pastor eine der Proben – und brachte einen Kasten Bier mit. Seitdem haben wir keine Bedenken mehr.“

Das vergibt der liebe Gott den Wintrichern bestimmt, denn sie wissen genau, was sie tun. Bei den ersten Proben sind die Bewegungen noch etwas starr, wird der Text abgelesen oder nicht ganz sauber ausgesprochen. „Es heißt: ‚Ihr irrt euch.‘ Nicht: ‚Ihr ürrt eusch‘“, korrigiert Kessler. Doch mittlerweile sind die Darsteller buchstäblich eingespielt. Auch seien die Textbücher mittlerweile aus den Proben „verbannt“, erzählt Kessler.

Der Ortsbürgermeister und energische Regisseur verkörperte bei den letzten Passionsspielen den Judas. Der frühere Jesus, Ralf Kaspari, verrät nun als Judas seine alte Rolle. Dafür wird frisches Gottessohn-Blut vergossen: Jonas Merges leidet dieses Jahr das erste Mal als Jesus.

Wintricher proben intensiv für die Passionsspiele
Foto: Klaus Kimmling

Die Leidens-Geschichte

Die Passion für die Passion hat in Wintrich Tradition: 115 Jahre, mit kürzeren und längeren Unterbrechungen, wird Jesu Leidensgeschichte dort schon aufgeführt. 1902 dienten die ersten, noch sehr einfach gehaltenen, Wintricher Passionsspiele der Renovierung der damals maroden Pfarrkirche.

Bis 1952 wurde die Passion alle fünf Jahre aufgeführt - nur zwei Weltkriege schafften es, die fromme Spielwut der Wintricher kurzzeitig aufzuhalten. Warum die Leidensgeschichte nach 1952 lange nicht mehr in Wintrich inszeniert wurde, ist nicht überliefert. Doch einige Wintricher waren nach 40 Jahren noch in der Lage, ihre Passagen aufzusagen. Als auch noch das ursprüngliche, verloren geglaubte Textbuch wieder auftauchte, gründete man die Passionsvereinigung Wintrich und vergoss 1997 erstmals wieder Gottes-Kunstblut in der Kirche.

Seitdem sind die Passionsspiele stetig bekannter und aufwändiger geworden. „Früher bestanden die Gewänder teilweise aus alten Gardinen oder Sofadecken“, erzählt der Vereinsvorsitzende Christian Schulz. Mittlerweile seien jedoch die weniger authentischen alten Kostüme entsorgt. Stattdessen tragen die Darsteller nun hochwertige, aber immer noch selbst geschneiderte Gewänder und Rüstungen. Die Recherche und Anfertigung authentischer Kleidung und Requisiten führte sogar zur Gründung eines neuen Vereins: Die „Vigilia Romana Vindriacum“ beschäftigt sich mit Kulturgeschichte und experimenteller Archäologie.

Nicht immer kann mit allen Kostümen und Requisiten geprobt werden. „Ich tue einfach so, als hätte ich ein Tuch“, sagt einer der Soldaten, als er Jesus mit leeren Händen die Augen verbinden soll. Der andere zieht dem Gottessohn kurzerhand die Mütze ins Gesicht.

 So spektakulär wie 2012 sollen die Passionsspiele auch dieses Jahr aussehen: Höhepunkt der Passionsspiele ist selbstverständlich die aufwändige Kreuzigungsszene.

So spektakulär wie 2012 sollen die Passionsspiele auch dieses Jahr aussehen: Höhepunkt der Passionsspiele ist selbstverständlich die aufwändige Kreuzigungsszene.

Foto: (e_eifel )

Der Verein rechnet damit, dass dieses Jahr ungefähr 8500 Menschen zu den 26 Aufführungen pilgern. Und für die muss Platz geschaffen werden. Darum erhält die Kirche für die Passionsspiele ein vollkommen neues Innenleben: Die Kirchenbänke werden durch Publikums tribünen ersetzt, die bis zu 300 Zuschauern gleichzeitig ungehinderten Blick aufs Bühnengeschehen erlauben sollen. In den Altarraum wird eine Bühnenkonstruktion mit mehreren Ebenen gebaut.

Besonders knifflig ist die Unterbringung des Chors. Denn dieser soll in manchen Szenen deutlich aus dem Off zu hören, aber nicht zu sehen sein. Darum müssen die Sänger Platz zwischen Altar und Rückwand der Kirche finden. „Wir müssen die Leute stapeln“, erklärt Kessler grinsend. Ein stabiles Gerüst mit mehreren Stockwerken soll helfen, damit der 85 Stimmen starke Chor auf knappem Raum Platz hat.

Passionierte Flohtaxis

Doch nicht nur die Kirche verändert ihr Gesicht: Seit Monaten gibt es verdächtig viele langhaarige, bärtige Männer in Wintrich, was momentan ja durchaus modisch ist und gar nicht so antik anmutet. Dennoch: „Am Schluss fallen die Bärte wieder“, erzählt Frank Hintze. „Manchmal kann es doch unangenehm werden, wochenlang als Flohtaxi durch die Gegend zu laufen.“

Und es steht für viele Barthaare das jüngste Gericht an: Auf, hinter und vor der Bühne wirken mehr als 200 aktive Vereinsmitglieder mit, die zwischen fünf und 80 Jahren alt sind. Der älteste Darsteller ist zum siebten Mal dabei, das erste Mal schon 1947.

Die intensive Zusammenarbeit über Wochen, Monate und Jahre schweißt selbst so viele unterschiedliche Menschen zusammen, erzählt Christian Schulz: „Man wird in den Proben zu einer echten Familie.“

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