Die Liebe hört niemals auf

"Ich gebe sie nicht her!" Der alte Mann mir gegenüber sieht mich lange an. Ich schweige, höre das Ticken der Wanduhr im Wohnzimmer. "Wir haben immerhin eine gute Ehe geführt. Seit 63 Jahren sind wir verheiratet.

Eine gute Zeit. Bis heute." Zwischen dem alten Mann und mir sitzt seine Frau. Ihre Augen - weit offen. Sehen ins Leere. Seit vielen Jahren leidet die Frau an Alzheimer. Nimmt ihre Umgebung kaum noch wahr. Erkennt niemanden. Spricht mit niemandem. Sitzt einfach nur da auf ihrem Stuhl, starrt, ist stumm. "Früher ist sie oft weggelaufen. Manchmal sogar nachts. Hat bei Nachbarn geklingelt. Im Schlafhemd. Jetzt kann sie nicht mehr weg. Sie sitzt hier oder liegt im Bett. Eben, wo ich sie gerade hinbringe." Der alte Mann erzählt mir die Krankheitsgeschichte. Haarklein, bis ins letzte Detail. Er hat viel Zeit. Seine Tochter bringt erst in einer Stunde das Mittagessen. Erst isst er. Dann füttert er sie. Wie ein Baby. "Das macht mich furchtbar müde, sie braucht manchmal eine Stunde, bis der Teller leer ist. Aber alleine kann sie ja nicht mehr. Gar nichts mehr eigentlich. Noch nicht mal sich waschen. Ich mache es für sie." Der Mann klagt nicht, erzählt einfach, wie man eben Geschichten erzählt, die schon lange vorbei sind. Er hofft, noch lange gesund zu bleiben. "Manchmal glaube ich, ich schaffe es nicht mehr. Bin schließlich schon 86.""Und wer hilft Ihnen?" Er macht eine abwertende Handbewegung. "Sehen Sie jemanden? - Aber ein Alten- oder Pflegeheim kommt gar nicht in Frage. Gar nicht." Er schlurft in die Küche Kaffee holen. Irgendwie ist mir die Kehle wie zugeschnürt. Ich bin einfach gerührt. Von der Selbstverständlichkeit, mit der er für seine verwirrte Frau da ist. Die Liebe hört niemals auf, hält allem stand, schreibt der Apostel Paulus. Ein großes Wort, ein erhabener Satz. Der alte Mann und seine verwirrte Frau leben in diesem Satz. Ohne Schnörkel. Ohne großes Aufsehen zu erregen. Die Liebe hört niemals auf. Ein schöner Satz. Noch schöner, dass er im Leben auch wirklich vorkommt. Harald Müller-Baußmann, Diakon, Morbach

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