Die vergessene Weihnacht

Der Herbst 1944 deutete schon recht früh an, dasssich einiges in Kürze ändern würde. Meine Familie wohnte damals in dem kleinen Nord-Eifeldorf Erkensruhr etwa zwei Kilometer südlich von Einruhr, das wiederum an der damaligen Südwestspitze der Ruhrtalsperre Schwammenauel lag. Durch Einruhr führte eine der Hauptversorgungsstraßen für die immer näher rückende Westfront. Mein Vater war als Volksschullehrer 1935 nach Erkensruhr versetzt worden, wurde aber 1943 als Sanitätssoldat eingezogen. Wo er sich im Spätherbst 1944 befand, war uns unbekannt. Meine Mutter vermutete ihn aber in der Gegend von Sarajevo in Jugoslawien. Zu dieser Zeit bestand unsere Familie neben unseren Eltern aus fünf Kindern, allerdings war meine Mutter mit dem sechsten Kind hochschwanger.Schon seit September 1944 konnten wir immer mehr deutsches Militär beobachten, das sich auf dem Rückzug befand. Die täglich über uns hinwegziehenden Bomberverbände, vermehrt auftretende Tiefflieger und der Kanonendonner zeigten uns ab Mitte November an, dass die Westfront nicht mehr weit war. Ende November 1944 mussten wir unser Heimatdorf verlassen und wurden nach Einruhr evakuiert, wo wir bei der befreundeten Lehrerfamilie in der dortigen Schule unterkamen. Wir Kinder hatten schon seit sechs Wochen keinen Unterricht mehr und konnten teils mit großem Interesse die vielen Truppenteile bestaunen. Aber ab Anfang Dezember wurden wir immer häufiger unmittelbare Zeugen des Krieges. Meist abends schoss schon die amerikanische Artillerie ihre Salven bis nach Einruhr, um so den Nachschub für die deutschen Einheiten in Kesternich, wo schon schwere Straßenkämpfe waren, zu stören. Meist verbrachten wir die Nächte schon im Luftschutzkeller des Schulhauses. Am 7. Dezember 1944 wurde dann meine jüngste Schwester geboren, so dass unsere Familie aus sechs Kindern bestand.Das Unheil für unsere Familie begann dann am 13. Dezember 1944. Beide Lehrerfamilien saßen gegen 17 Uhr zusammen beim Abendessen, als plötzlich mehrere Granaten vor dem großen Küchenfenster einschlugen. Wir alle sprangen auf und stürzten Hals über Kopf in den Luftschutzkeller. Meine Mutter war schon unten im Keller, als ihr einfiel, dass sie das Familienstammbuch vergessen hatte. Sie rannte nochmals nach oben, als wieder eine Granate einschlug und ein Granatsplitter meine Mutter im Brustkorb traf. Trotz dieser Verletzung schleppte sie sich noch zu uns in den Keller, wo sie blutüberströmt zusammenbrach. Einige herbeieilende Sanitäter brachten unsere Mutter nun zu einem Sanitätsfahrzeug, das aber erst spät abends nach Ende des Artilleriefeuers zu dem Frontlazarett im Kloster Mariawald aufbrach. Dies war das letzte Mal, dass wir Kinder die Mutter noch lebend sahen. Als mit neun Jahren Ältester der verbliebenen Kinder unserer Familie hatte ich schon Wochen vorher von meiner Mutter einen Umschlag mit wichtigen Adressen erhalten - wohl ahnend von der Tragödie. Es entstand also die Frage, wohin mit uns Kindern. Wohl wurde noch in der folgenden Nacht ein Telegramm an meinen Vater geschickt, das ihn aber erst sechs Wochen später erreichte.Am Folgetag nach dem Unglück fand ein Bauer in seiner Scheune den Leichnam meiner Mutter. Was war geschehen? Das Sanitätsfahrzeug war zwar noch bis zum Lazarett gekommen, wo man aber den Tod meiner Mutter feststellte. So fuhr das Sanitätsfahrzeug zurück nach Einruhr, wo es am Ortseingang von einer Granate getroffen wurde. Meine Mutter wurde aus dem brennenden Fahrzeug geborgen und in die erwähnte Scheune gebracht. Am 15. Dezember wurde der Leichnam meiner Mutter auf dem Friedhof in Einruhr beerdigt, ohne Sarg und - soweit ich mich erinnern kann - in einem roten Morgenmantel. Aber auch die Beerdigung musste wegen einsetzender Artilleriefeuer abgebrochen werden, so dass irgendjemand später das Grab zugeschaufelt haben muss.Wegen der am 16. Dezember beginnenden "Ardennen"-Offensive konnten wir nicht evakuiert werden. Man hatte zwischenzeitlich mit einer entfernten Verwandten in Bonn Kontakt aufgenommen, die uns fürs Erste bei sich unterbringen wollte. Erst am 23. Dezember sollten wir mit einem SA-Bus aus dem Frontgebiet evakuiert werden. Aber auf den Höhen vor Gemünd holte uns das Kriegsgeschehen wieder ein. Amerikanische Tiefflieger griffen unseren Flüchtlingskonvoi trotz des "Rotenkreuzes" an, und es gab wieder einige Tote unter den Zivilisten. Gott sei Dank wurden wir von Rotkreuzschwestern fürsorglich betreut und in Mechernich an die angereisten Verwandten übergeben. An Heiligabend 1944 waren wir endlich in Bonn und fühlten uns scheinbar sicher. Aber schon am Abend mussten wir alle in den Luftschutzkeller, denn ein schwerer Bomberangriff auf eine Nachbarstadt zwang uns zur Flucht in die Sicherheit.Von den Weihnachtstagen hatten wir bis dahin nichts bemerkt. Im Gegenteil: Am 7. Januar 1945 starb meine erst fünf Wochen alte Schwester Hildegard an Unterernährung und wurde in einem Kindergrab bestattet. So kam es, dass wir keine Erinnerung an das Weihnachtsfest 1944 haben. Es fand nun einmal nicht statt. Ludwig Beißel ist Jahrgang 1935 und verbrachte seine Kindheit in der Nordeifel. Heute lebt er in Kinheim-Kindel.

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