Die weiße Flagge gezeigt

Der Montag am 19. März 1945 war ein strahlender, sonniger Frühlingstag. In den ernsten Gesichtern der Leute war aber trotz des herrlichen Wetters kein Hauch von Frohsinn zu erkennen. Im Gegenteil: Man spürte förmlich die Angst in jedem, was in den nächsten Tagen oder vielleicht schon Stunden in Morbach zur bitteren Wahrheit werden könnte.

Den Standort der alliierten Front an diesem Tag konnte man nur vermuten. Es war aber bekannt, dass es sich nur um eine kurze Zeit handeln konnte, bis die Truppen unseren Ort erreichen. In jedem von uns drängte sich die bange Frage auf: Wird Morbach den Einmarsch der Alliierten ohne Kampfhandlungen überstehen, oder kann es zu einer Katastrophe kommen? Man wusste auch nicht, ob sich in den Wäldern um Morbach noch kampfbereite deutsche Truppen befanden; im Ort waren keine mehr. Etwa um die Mittagszeit tauchten plötzlich mehrere Geschwader schwerer Kampfflugzeuge vom Westen her kommend auf. Die geringe Flughöhe und die präzise Anflugrichtung auf unseren Ort ließen Schlimmes erwarten: Werden die Maschinen ihre Bombenlast über Morbach abwerfen? Das Brummen der Flugzeuge war noch zu hören, da wurde die Bevölkerung durch ein anderes Geräusch aufgeschreckt. Zwei Panzerbrigaden, eine von der Birkenfelder Straße, die andere von der Hunsrückhöhenstraße her kommend, bewegten sich langsam auf Morbach zu. Der Arzt Dr. Johannes von Stackelberg, ein mit ihm befreundeter Dr. Hermesdorf, beide in der Saarstraße (früher Rapperather Straße) wohnend, und zwei unbewaffnete deutsche Soldaten gingen, eine weiße Fahne schwenkend, auf die in die Saarstraße einbiegenden Panzer zu und gaben einem Panzeroffizier zu verstehen, dass sich in Morbach keinerlei Militär mehr befinde. Die beiden Soldaten gingen in Gefangenschaft. Ohne Kampfhandlungen fiel Morbach am 19. März 1945 in die Hände der Alliierten. Die letzten Flugabwehrgeschütze waren wenige Tage vor dem Einmarsch aus ihren Stellungen um den Bahnhof abgezogen worden. Auch vom Kirchturm wehte die weiße Fahne. In den Wochen vor der Besetzung war unser Bahnhof öfter Ziel von Tieffliegern. Bei einem dieser Angriffe fielen auch Bomben auf das Sägewerk Ludwig Kuntz. Dabei kam ein Arbeiter ums Leben. Nur der Tatsache, dass der Angriff in der Mittagspause erfolgte und sich alle anderen Werksarbeiter zu diesem Zeitpunkt in einem Nebengebäude befanden, ist es zu verdanken, dass es nicht noch weitere Tote und Verletzte gab. Ein weiterer Bombenangriff von mehreren Tieffliegern auf den Bahnhof Morbach war am 27. Dezember 1944 um 15.25 Uhr. Glücklicherweise verfehlten die Bomben bei allen Angriffen ihr Ziel. Doch zwei fielen auf das Hotel Bindges. Dabei wurden die Wirtin des Hotels schwer verletzt und ihre fünf Jahre alte Tochter, die sie an der Hand hielt, getötet. Auch einem fahrenden Zug zwischen Morbach und Bischofs-dhron galt ein Angriff von Tieffliegern. Aus diesem überfüllten Personenzug, besetzt mit Soldaten, die nach einem Kurzurlaub in der Heimat auf der Fahrt an die Front nach Russland waren, wurden zahlreiche Tote und Verletzte geborgen. Eine Rot-Kreuz-Schwester verlor beide Beine. Dass sich auf dem heil gebliebenen Bahnhof auf einem Abstellgleis mehrere mit Munition beladene Waggons befanden, wurde erst nach dem Einmarsch der Alliierten bekannt. mic/mok Alfons Klein (Jahrgang 1929), der Autor des Textes, lebt mit seiner Familie in Morbach. Er war bis zu seiner Pensionierung bahnamtlicher Spediteur bei der Deutschen Bahn.

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