Ein wichtiges Stück Kultur

WITTLICH. Leselust statt Bücherfrust: Hinter diesem Titel verbirgt sich ein Seminar, das im Dachgeschoss der Stadtbücherei für Erzieherinnen angeboten wurde. Jede Menge praktische Tipps fürs Vorlesen hatte die Referentin im Gepäck.

Als sehr lebhaft und interessiert beschrieb Seminarleiterin Christine Kranz ihre Zuhörerinnen am Ende. Die ihrerseits gaben das Lob überschwänglich zurück: Äußerst kenntnisreich und lebendig sei sie gewesen, die Frau von der Stiftung Lesen; ihre Tipps gehaltvoll und aufschlussreich für Theorie und Praxis. Einen Tag rund um das Lesen verbrachten etwa 20 Frauen - die meisten Erzieherinnen aus Kindergärten des gesamten Kreises - mit dem Lese-Profi Christine Kranz. Zwei der Frauen waren sogar aus rein privatem Interesse gekommen. Die eine meinte: "Die meisten meiner Kurse gebe ich eher für Lesepaten." Diese Freiwilligen, die in der gesamten Republik rekrutiert werden, besuchen Krankenhäuser, Kindergärten oder Seniorenheime und leisten dort etwas, was bis vor wenigen Jahren zur selbstverständlichen Kultur in Deutschland gehörte: Sie lesen vor.Lesen contra Fernsehen

Dass dieses Stück Kultur flächendeckend weggebrochen ist, hat weitreichende Folgen, die für das einzelne Individuum ebenso tragisch sind wie für das gesellschaftliche Gesamtgefüge. Je geringer das Vokabular eines Menschen, um so undifferenzierter seine Gedankenwelt. Bei 20 bis 25 Prozent der Kinder werden heute Sprachauffälligkeiten beziehungsweise -störungen konstatiert, und das längst nicht mehr nur bei Ausländerkindern. Die schlechten Pisa-Ergebnisse wurzeln zumindest teilweise in einer mangelhaften Sprach- und Lese-Entwicklung, die beide immer Hand in Hand gehen. Nach der Theorie von Christine Kranz liegt eine der Ursachen im erhöhten Fernsehkonsum unserer Zeit, eine andere in den veränderten Familienstrukturen. Fehler können jedoch auch diejenigen machen, die das Lesen eigentlich fördern möchten. Die Seminarteilnehmerinnen stellten fest, dass sie die Zeit, die sie für das Vorlesen eines Bilderbuches veranschlagten, deutlich überschätzten. Die reine Vorlesezeit sollte bei Kindergartenkindern nur wenige Minuten betragen; was sich allerdings während des Lesens an Dialogen entwickelt, ist eine andere Sache. Flexibilität müssen die Vorleser an den Tag legen. Kranz berichtete von Gruppen, in denen mit Geschichten von drei Minuten Länge begonnen werden musste: Das hänge davon ab, wie selbstverständlich den jeweiligen Kindern das Lesen schon sei. Als contra-indiziert bezeichnete Kranz ein Bonbon oder ähnliches zur Belohnung nach erfolgreichem Zuhören. Der Gewinn des Vorlesens sei in sich begründet, er liege in dem, was erlebbar gemacht werden kann. Eltern können nicht früh genug damit beginnen, Kinder mit Büchern vertraut zu machen. Bereits mit wenigen Monaten können Babies erste Bücher besitzen: Fühlbücher mit unterschiedlicher Oberflächenbeschaffenheit der abgebildeten Gegenstände erleichtern den Einstieg. "Wenn bis zum Eintritt in die Schule gewartet wird, ist der Zug bereits abgefahren." Die Leselust werde wesentlich früher geweckt - oder eben verschlafen.Die richtige Atmosphäre schaffen

Eine gute Vorbereitung gehöre allemal zum Vorlesen, so Kranz. Sie empfahl ein separates Zimmer, eine ruhige Atmosphäre, eine adäquate Ankündigung der Vorlesestunde als Ereignis, auf das sich die Kinder im Kindergarten einstimmen und freuen können. Beim Lesen selbst sei keine dramaturgische Höchstleistung verlangt, im Gegenteil, einige wenige Regeln genügten: "Laut genug lesen, langsam und deutlich, Pausen machen, und immer wieder den Blickkontakt herstellen." Logisch, dass der angebotene Stoff schon im Vorfeld diejenigen interessieren soll, denen vorgelesen wird. Wobei mit kleinen Tricks die Neugier schnell geweckt ist, so Kranz. In einer Schatzkiste vorbereitete Materialien etwa, aus der die Kinder sich einen Gegenstand aussuchen können, und - welche Überraschung! -, da hat der Vorleser doch gerade das passende Buch dabei! Je kleiner die Kinder, um so märchenhafter und phantastischer können die Geschichten sein. Immer ins Schwarze treffen Tiergestalten, weil sie nicht geschlechtsspezifisch wahrgenommen werden. Später werden die Geschichten realer, und noch ein wenig später dürfen sie von Problemen und deren Bewältigung erzählen. Also: Alles eigentlich ganz einfach!

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